Bis vor kurzem gab es in Berlin Stadt-Inseln an Orten, wo einst die Mauer verlief, die wie eine innerstädtische Peripherie wirkten. Dazu gehört die Gegend um den Moritzplatz, die mit Tankstellen, Autoverleih und Parkplätzen den Charme eines Gewerbegebiets versprühte. Entlang der Mauer verfielen die angrenzenden Stadtteile in einen Dornröschenschlaf, aus dem sie nun erwachen: Rund um den Moritzplatz versprechen neue Bauvorhaben, die „Kreuzberger Mischung“ von Wohnen und Arbeiten für das digitale Zeitalter neu zu entdecken.
Kreuzberg ist der Geburtsort der „Kreuzberger Mischung“: Während in den Blockrandbebauungen des 19. Jahrhunderts im Vorderhaus und Seitenflügel gewohnt wurde, dienten Hinterhaus und Hof meist dem Gewerbe. Bei der „Kreuzberger Mischung“ ist die Dichte hoch, die Wege sind kurz, Urbanität und soziale Mischung sind garantiert. Genau da will man heute im Städtebau wieder hin – angesichts der leisen und emissionsfreien Arbeitsplätze, an denen heute in Start-up-Unternehmen und im Dienstleistungssektor gearbeitet wird, ist die Mischung von Wohnen und Arbeiten erstrebenswert.
Im Zweiten Weltkrieg war dieser Kreuzberger Mischung der Garaus gemacht worden. Als die US-Luftwaffe ihre Bombenteppiche über Berlin regnen ließ, versuchten die Militärstrategen zunächst rüstungsrelevante Industrien zu treffen, die teils in die Berliner Hinterhof-Wirtschaft in Nord-Kreuzberg verwoben waren. Speziell die Quartiere am Moritz- und Oranienplatz waren nach dem Zweiten Weltkrieg Ruinen. Ein Luftangriff hatte am 3. Februar 1945 das nördliche Kreuzberg völlig zerstört. Als der Bau der Mauer Kreuzberg zu einer sozial-utopischen Aussteiger- und Einwanderer-Oase im Schatten der Grenze machte, wurden die besten Lagen in Nord-Kreuzberg lieblos mit belanglosen Sozialwohnungsbau-Klötzen verstellt, die heute in ihrer Ungelenkheit und architektonischen Tristesse kaum mehr zu rechtfertigen sind. Die links-alternativen Milieus und die Hausbesetzerszene sperrten sich gegen diese „Flächensanierung“ mit der Keule und wiederentdeckten den Wert der Jahrhundertwende-Bebauung. In den 1980er-Jahren wurde gerettet, was an Kreuzberger Mischung noch zu retten war. Aber ökonomisch verfiel Kreuzberg in einen Dornröschenschlaf, aus dem die Kapitale erst langsam wieder erwacht. Der benachbarte bald stark türkisch gepägte Wrangelkiez wurde zum einkommensschwächsten Stadtteil Berlins. Während im Zeitungsviertel bereits ein „Kreativquartier“ blüht, wird nun der Nachbarkiez im Osten wachgeküsst.
Nach dem Fall der Mauer begann die Neuerfindung des Moritzplatzes mit dem Modulor-Haus. In der Zwischenzeit kamen vier weitere große Neubauten dazu, die diesen Teil von Nord-Kreuzberg neu prägen. Das Modulor-Haus auf dem Grundstück des Bechsteinhauses wurde zu einem „Ort für berufskreative Menschen“. Ins Haus zogen neben dem namensgebenden Materialgeschäft der Aufbau-Verlag sowie Büros, Händler und Werkstätten und eine Kita ein. Bald darauf wurde nebenan das Geschäftshaus Aufbau Haus 84 gebaut, entworfen von den Architekten Barkow und Leibinger. Seine offene Skelettstruktur für Lofts, Gastronomie und die Kreativszene schloss die Lücke zwischen dem Elsnerhaus von 1914 und dem Modulor-Pionierbau.
Neues Leben in den Butzke-Werken
Die Mischung von Wohnen und Gewerbe hat sich auch der Baublock an der Ritterstraße (1894 und 1898 gebaut) zum Ziel gesetzt. Der Hamburger Architekt Karsten Groot hat aus der Armaturenfabrik Bernhard Joseph AG, die 1926 mit der Metallwaren- und Lampenfabrik F. Butzke zur Butzke-Werke AG fusionierte, ein Quartier geschaffen, das beweist, dass Gentrifizierung etwas Positives sein kann: Hier verdrängt kein Unternehmensberatungsbüro eine Kiezidylle, sondern hier werden im Quartier geborene Institutionen gepflegt: Wo einst der Druckspüler erfunden und produziert wurde, hat heute die Hip-Hop-Tanzschule „Flying Steps“ ihren Sitz. Das Tanzstudio ist nun der prominenteste Nutzer im Reigen aus Künstlern, Gründern und Unternehmern auf dem Butzke-Areal. Seit 2007 befindet sich in den Werkhallen der Club Ritter Butzke. Groot musste bei der Sanierung die offenen Wunden mit neuen Seitenflügeln heilen, denen er mit trapezförmigen Fenstern Wiedererkennbarkeit gegeben hat. Ein schwarzes Penthouse-Geschoss fasst alle Gebäudeflügel zusammen und bietet Arbeitsplätze mit Blick über die Stadt. 1977 erhielt die Firma Butzke einen bunten Neubau entlang der Lobeck-Straße. Nach der Verlagerung der Produktion 1997 stand das Gebäude lange leer. Im Jahr 2014 kaufte die GSG es und betreibt es seitdem als AQUA Carré Berlin. Der Komplex dient als Kunst- und Kulturareal für Architekten, Designer, Softwareentwickler, Medien- und Kommunikationsunternehmen, Tischler, Künstler, Musiker. Zudem gibt es hier ein Fitness- und ein Tonstudio. Groot hat dem Haus zwei Geschosse mit Aluminium-Fassade aufgesattelt, die Atelier- und Werkstattflächen bieten für Büros, Werkstätten und Studios mit Glasfasernetz und „Hofküche“.
Stadtregal auf Robbengelände
Direkt neben dem Aqua-Areal werden nun zwei große Neubauten an der Ritterstraße gebaut. Auf dem Gelände einer Autoverleihfirma bauen Kada Wittfeld aus Aachen das „The Shelf“, genannte: „Regal“. Es soll Büros, Einzelhandel, Gewerbe und Gastronomie beherrbergen. Über einen üppig begrünten Innenhof werden alle Geschosse und zwei Dachterrassen erschlossen. Für die Einfahrt entwickelt das Start-Up „Green City Solutions“ eine Moosfassade, die Feinstaub binden und die Luft verbessern soll. Für die Ostseite der Prinzenstraße entwarf Eike Becker Architekten das riesige „The Grid“-Areal.
Das Viertel „SO 36“, das vor dem Zweiten Weltkrieg doppelt so viele Einwohner hatte wie heute, ist dabei, seine Lage wiederzuentdecken und seine Amnesie zu überwinden. Heute sucht die partyfreudige „Generation easyjet“ ihre Selfie-Motive und günstige Tränken im Hippie-Bezirk. Kreuzberger Nächte gelten als lang, Der Moritzplatz mausert sich zum Zentrum der Kreativwirtschaft. Der Bezirk ist das Zentrum der Hauptstadt: Seit 1997 markiert ein Gedenkstein den geometrischen Mittelpunkt der Stadt am Moritzplatz.