Zum Himmel über Berlin

Estrel Tower und Amazon-Turm
Die Silhouette der Hauptstadt wird von zwei neuen Super-Hochhäusern dominiert

Hochhausbau in Berlin ist ein Dilemma: Seit hundert Jahren müht sich die deutsche Hauptstadt darum, ein Konzept für ihr Wachstum in die Vertikale zu finden, aber eine wiedererkennbare Skyline hat die Stadt  bis heute nicht. Eigentlich war der Alexanderplatz als „Cluster“ für die neuen Türme schon bald nach der Wiedervereinigung der beiden Stadthälften auserkoren worden, aber dort ist die Entwicklung zäh. Mehr als dreißig Jahre vergingen, bevor nun die ersten Kräne von einer neuen „Zitadelle“ im östlichen Zentrum der Stadt künden. Stattdessen setzen zwei neue, recht hohe Hochhäuser Maßstäbe. Während der Amazon-Turm (East Side Berlin) das Arbeiten im Hochhaus mit Freiluft-Terrassen in schwindelnder Höhe verbindet, verpasst der Estrel-Turm einem Großhotel am Stadtrand ein schlankes Ausrufezeichen.

Visualisierung des Estrel Towers

Nur die beiden großen Seen und Wälder im Osten und Westen Berlins beschränken das Wachstum der Stadt: Die flache Ebene und der sandige Baugrund, auf dem Berlin steht, haben das Höhenwachstum auf 23 Meter begrenzt. Teilungs- und weltkriegsbedingt hat Berlin kein Banken- oder Geschäftsviertel, in dem es einen Sog in die Höhe geben würde wie in jeder anderen Metropole der Welt.

Die Spitze des Estrel-Hochhausturms

Zwei neue Wolkenkratzer im Osten der Stadt setzen nun neue Akzente in Berlin: Der „East Side Tower“ ragt 142 Meter hoch über das Dächermeer von Friedrichshain. Der dänische Architekt Bjarke Ingels hat dem Turm an der Warschauer Brücke, unweit der East-Side-Galerie, eine treppenartig ausgeschnittene Vorhangfassade gegeben, die an Pixel erinnert. Berlins neue Spitze krönt das „Media-Spree“-Neubauviertel, das unter Leitung der ehemaligen Berliner Senatsbaudirektorin Regula Lüscher fertiggestellt wurde. Sie ist auch Autorin der „Berliner Hochhaus-Leitlinie“, die vorsieht, dass alle neuen Türme in der Stadt öffentlich zugängliche Sockel und Spitzen haben. Ein Café im Erdgeschoss und in der obersten Etage sowie eine Etage mit kostenlosen Büros für gemeinnützige Organisationen, die im Amazon-Tower vorgesehen sind, befriedigen das Gewissen der Stadtplaner. Mit seinen 36 Stockwerken überragt der neue Pixel-Turm die beiden Hochhäuser im Westen der Stadt, das Zoofenster und das Upper West deutlich. 28 Etagen sind an die Firma Amazon aus Seattle vermietet. Auch wenn sich Bauherr und Architekt des Turms alle Mühe geben, ihr Haus als „grün, smart und gesund“ anzupreisen, es ist doch unverkennbar ein Kind der Spätmoderne. Rem Koolhaas, der geistige Vater der zeitgenössischen dänischen Neo-Moderne, hat sich um elegante Details nie geschert und betrachtet Hochhaus-Fassaden als generische Versatzstücke. Coen van Oostrom, der Gründer der Firma Edge, die etwa 400 Millionen Euro in den Turm investiert hat, kommt ebenfalls aus den Niederlanden. Statt aus Details versuchen Koolhaas und Ingels gestalterisch Funken aus der Funktion zu schlagen: Die städtische Nachbarschaft soll in einer vertikalen Struktur fortgesetzt werden, hoffen die Architekten. Das ist  jedoch schwer umzusetzen, denn Hochhäuser sind vertikale Sackgassen. Es sind  keine urbanen Straßen in der Vertikalen, weil sie meist schon im Erdgeschoss streng zugangskontrolliert werden. Die Mitarbeiter des Online-Versandhausriesens können mit dem ersten seillosen Aufzugssystem der Welt in Doppelstock-Lifts in ihre Büro-Etagen und wieder hinabgleiten. Der Blick über die Stadt ist in den oberen Etagen gigantisch: Berlins höchstes Bürogebäude wird nur vom Fernsehturm überragt. Doch solange der Hochhausbau in Berlin sich nur schwerfällig entwickelt, genießen die Nutzer der wenigen bestehenden Türme einen um so weiteren Blick über die Kapitale.

Um den Amazon-Turm herum verlaufen drei spiralförmig eingeschnittene zweigeschossige Terrassen. Jeder zweite Flügel der Glasfassaden lässt sich öffnen, damit die Nutzer Frischluft am Schreibtisch genießen können. Die Fassaden mit Aluminiumrahmen und Dreifachverglasung haben bis zu zwei Meter hohe Glasbalustraden, damit niemand vom Dach geweht wird. Auf jedem Geschoss gibt es Zugang zu einem Aussenraum, der sogar mit Bodendeckern, winterblühenden Stauden und kleinen Bäumen bepflanzt wird. Das ist eine Revolution im Hochhausbau.

Hotel, Coworking-Space, Restaurant und Bar sowie eine spektakuläre Aussicht vom Estrel-Turm

Während der Amazon-Turm das Arbeiten im Hochhaus mit Freiluft-Terrassen in schwindelnder Höher verbindet, verpasst der Estrel-Turm einem Großhotel am Stadtrand ein schlankes Ausrufezeichen.

Derlei Ambitionen hat der Estrel Tower in Neukölln mit rautenförmigem Grundriss nicht. Er wird den Amazon-Turm als höchstes Haus der Stadt vom Thron stoßen, obwohl er mitten in einem Gewerbegebiet liegt: Der Estrel Tower soll mit 46 Stockwerken und 176 Metern Höhe Berlin bekrönen. Der Hotelier Ekkehard Streletzki und sein Sohn verbauen 260 Millionen Euro für ihren Turm auf dem Gelände eines ehemaligen Kabelwerks. Das deutsch-amerikanische Architekturbüro Barkow Leibinger plant 525 Hotelzimmer, Büros und ein Restaurant sowie eine Skybar darin. Wie der Amazon-Turm liegt auch der Estrel-Tower an einem S-Bahnhof und gilt so als moderne „transit-oriented development“. Das Berliner Hochhaus-Regelwerk schwadroniert zusätzlich vom „Mehrwert für die Stadtgesellschaft, Multifunktionalität, Kompensation und Partizipation“, den neue Hochhäuser liefern können.

Blick aus dem künftig höchsten Hochhaus Berlins, dem Estrel-Turm
Atrium des Estrel Towers

Beide neuen Türme sind urbane „points de vue“ im Häusermeer von Berlin. Die Lehre der Postmoderne, dass nur Türme mit prägnanter Silhouette einen Beitrag zur Skyline einer Stadt leisten und in Basis, Schaft und Kapitel gegliedert sein sollen, ist vergessen. Die beiden neuen Hochhäuser sind, salopp gesagt, einfache Flachdach-Kisten wie in den 1960er Jahren.

Eigentlich waren Alexanderplatz und City West als Kronen der Stadt auserkoren worden

Eigentlich waren Alexanderplatz und City West als Kronen der Stadt auserkoren worden. Nach langen Jahren des Zauderns werden dort nun die ersten Hochhäuser gebaut. Aber die Berliner Hochhaus-Politik führt dazu, dass in Berlin keine städtebauliche Dramatik wie in Shanghai-Pudong, Singapur oder in Chicagos Loop in Berlin nicht entstehen kann. Es gibt keine Not in der Stadt, in die Höhe zu bauen und Millionen in den urbanen Sand zu setzen. Die wenigen Hochhäuser genießen dafür umso mehr Aufmerksamkeit. Türme hier und da im Stadtgebiet verteilt, erwecken den Eindruck eines Stalagmiten-Felds.

Ulf Meyer

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