Das Experimentierquartier

Alexanderplatz

Das verfallene Haus der Statistik hat wieder eine Zukunft. Nachdem die DDR-Ruine  wieder im Besitz des Landes Berlin ist, sieht das neue Konzept vor, das 3 Hektar große Areal am Alexanderplatz in ein gemischtes Quartier ­zu verwandeln. Der Bezirk Mitte  zieht an den Standort mit Finanzamt und Rathaus. Wohnungen werden gebaut, und „Experimentierhäuser“ für Kunst und Soziales sollen dafür sorgen, dass es nicht langweilig wird, sondern anders. Ausprobiert wird aber schon heute – bei laufender Sanierung des Bestandsgebäudes.

Es ist Donnerstagabend und überraschend still im Innenhof des Haus der Statistik. Der Gebäudekoloss sorgt dafür, dass der Verkehrslärm vom Alexanderplatz draußen bleibt. Ini Dill, Tänzerin vom Künstlerkollektiv die elektroschuhe sitzt in einer ausgedienten Autoscooterhalle. Sie wartet auf Gäste ihrer neu gegründeten Tanzwerkstatt. Es ist der erste Termin. Einmal in der Woche möchte sie den Nachbarn zeitgenössischen Tanz beibringen und Tanztheater zeigen. Dafür bietet das auf dem Parkplatz abgestellte Fahrgeschäft mit seinen 230 Quadratmetern Fläche jede Menge Platz. Es soll sich zu einem offenen Nachbarschaftszentrum entwickeln mit Debattierclub, Geschichtswerkstatt und Rollschuhdisko. 
Nach elf Jahren Leerstand ist im und am Haus der Statistik wieder etwas los. Nachts leuchtet der Schriftzug „Allesandersplatz“ auf dem Dach. Tatsächlich ist alles anders: Honigbienen bevölkern mit zehn Bienenstöcken das alte Archivgebäude und fliegen für das Kunstprojekt Beecoin durch die offenen Fenster ein und aus. Die Architekturzeitschrift Bauwelt diskutiert mit Vertretern des Senats über gemeinwohlorientiertes Bauen im ehemaligen Drogerie-Pavillon. Und eine Ausstellung informiert in den Räumen der früheren Apotheke über das städtebauliche Konzept.
Zwischen Karl-Marx-Allee, Otto-Braun-Straße und Berolinastraße soll ein neues Quartier gebaut werden. Der Autoscooter ist temporär und ein sogenanntes Musterhaus für Statistik, das von der Senatsverwaltung für Kultur gefördert wird.

Das Haus der Statistik ist ein 1970 gebauter Gebäudekomplex für Büros und Gastronomie. Er wurde als Gesellschaftsbau an der Schnittstelle zweier Prestigeprojekte der DDR (Karl-Marx-Allee und Alexanderplatz) von den Architekten Manfred Hörner, Peter Senf und Joachim Härtner entworfen. Gegenüber liegt das prominentere Haus des Lehrers mit der Kongresshalle. Das Haus der Statistik sei ein typischer „Bau aus der zweiten Reihe“, sagt Clemens Weise von der Bauhaus Universität Weimar. Bei einem Vortrag vor Ort berichtet er über seine Baugeschichte. Heute haben die Fenster in den Fassaden keine Scheiben mehr, sie lassen das Gebäude wie eine Bruchbude aussehen. Aber der Abriss, der mal geplant war, ist längst vom Tisch. 46 000 Quadratmeter sind nun frei für neue Nutzungen.

Rathaus im Hochhaus

Der 1970 eröffnete Altbau wird entgegen früherer Pläne erhalten und bereits von der Berliner Immobilien Management GmbH (BIM) saniert. Mit den fensterlosen Fassaden verschreckt die Ruine im Moment jeden, der am Alex vorbeikommt. Der Großteil der auf 46 000 Quadratmetern leerstehenden Geschossfläche wird danach durch das Finanzamt Mitte genutzt. Nur die Flachbauten des Gebäudekomplexes werden abgerissen, so auch das Archiv mit den Bienen.
Anstelle des zweiten Flachbaus, des früheren Rechenzentrums, entsteht an der Otto-Braun-Straße mit einem 64 Meter hohen Hochhaus der neue Standort für das Rathaus des Bezirks Mitte. Am alten Standort hinterm Kino International läuft 2028 der Mietvertrag aus.
Das zur Berolinastraße hin offene Areal wird mit drei neuen Blöcken geschlossen. Ab 2023 baut die Wohnungsbaugesellschaft Mitte (WBM) 300 Wohnungen. Die Hälfte davon wird als Sozialwohnungen für 6,50 Euro pro Quadratmeter vermietet. So entstehen drei neue Höfe, im Konzept als „Stadtzimmer“ bezeichnet. Sie sollen gemeinschaftlich genutzt werden. Hinzu kommen drei „Experimentierhäuser“, in denen die Nutzungen wechseln.
 

An der Otto-Braun-Straße sind urbane Sport- und Freizeitanlagen geplant
Die bestehenden Nachbarschaft an der Beroliner Straße soll in das Neubauvorhaben integriert werden

Mit den Neubauten entstehen 66 000 Quadratmeter Geschossfläche im Quartier. Mindestens 15 000 davon soll die Zusammenkunft Berlin e.G. (ZKB) nutzen. Sie bekommt auch Flächen im Altbau gegenüber dem Alexanderplatz. Die Genossenschaft ist aus der Initiative Haus der Statistik und dem Zentrum für Kunst und Urbanistik hervorgegangen und kümmert sich um die Pioniernutzungen, die seit Mai mit Projekten in die Erdgeschosse einziehen. Außerdem befindet sich die ZKB in einer Kooperationsgemeinschaft mit Senat und Bezirk. In der Koop5, wie sie heißt, verpflichten sich auch die WBM und die BIM, das Quartier gemeinsam zu entwickeln. Bis 2021 soll Baurecht geschaffen werden.

Im Planungsprozess sind beim Haus der Statistik Experimente erlaubt. Das Modell der kooperativen Stadtentwicklung ist neu in Berlin und wird auch am Dragoner-Areal in Kreuzberg ausprobiert. Das Land Berlin hatte beide Grundstücke im Rahmen des Hauptstadtfinanzierungsvertrags vom Bund zurückgekauft. Zuvor sollten sie privatisiert werden.
 

Die Freiräume zwischen den Häusern sollen nachbarschaftlich genutzt werden können
Die Dachlandschaft ist für eine gemeinschaftliche Nutzung vorgesehen

Aber noch läuft im Autoscooter am „Allesandersplatz“ keine Musik. In die Tanzwerkstatt ist an diesem Abend nur ein einziger Nachbar gekommen, aus Prenzlauer Berg. Ini Dill unterhält sich mit ihm, gemütlich auf Stühlen stitzend. Es ist Sommer. Nach den Ferien, sagt sie, ginge es dann sicher richtig los.

André Franke

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