Das Ende der großen Welle

Der Bau im Jahr 1987 aus der Vogelperspektive

Einst gehörten schon die Warteschlangen am SEZ in der Landsberger Allee zum Freizeitspaß in Ost-Berlin. Nach der Wende verkümmerte der hochmoderne Freizeitkomplex zur Bauruine und soll jetzt abgerissen werden: ein weiteres Beispiel für den unverantwortlichen Umgang mit dem baulichen Erbe der DDR – und mit seiner manchmal kuriosen Entstehungsgeschichte

Die große Welle kam zweimal pro Stunde für zehn Minuten. Das hieß: Die Luft anhalten und sich der Wassermasse entgegenstemmen, die mit Karacho angerollt kam. Prustend wieder auftauchen und gleich nochmal. Dann war Pause, bis eine Glocke die nächste Runde ankündigte. Wenn sie ertönte, rannten die Gäste des Hallenbades so schnell wie möglich rüber zum Becken, um einen guten Platz zu haben, wenn die nächste Welle kam. Das Wellenbad war eine der Hauptattraktionen des spektakulären Sport- und Erholungszentrums SEZ, das in Friedrichshain im März 1981 eröffnet wurde. Nach der Wende wurde die Anlage nur noch teilweise bespielt, stand bald still und verfiel – bis der Berliner Senat, dem das SEZ heute gehört, 2024 bekanntgab, dass er das Gebäude abreißen und die Fläche für Wohnungsbauten nutzen will. Auf den ersten Blick ist das naheliegend. Zu DDR-Zeiten war der weitläufige Freizeitkomplex hochsubventioniert, in der freien Marktwirtschaft ließ er sich nie kostendeckend betreiben. Weder wirtschaftlich, noch architektonisch passte er in das wiedervereinigte Berlin und nach Jahren des Leerstandes mit nur sporadischer Nutzung als Veranstaltungsort ist der einstige Prestigebau bloß noch eine kümmerliche Erinnerung an die große Zeit. Dennoch ist die Preisgabe bis zu Verfall und Abriss die denkbar schlechteste Lösung. Mit dem so kantigen wie leichtfüßigen Glaspalast, von der internationalen Fachwelt von Anfang an hochgelobt, verschwindet nicht nur eine weitere zeitgeschichtlich und baulich interessante Stelle aus dem Stadtbild – sondern auch ein Ort, an den viele Berlinerinnen und Berliner lebhafte und positive Erinnerungen haben, und mit dem sie sich identifizierten. Schon am Eröffnungstag war die Warteschlange immens, und diejenigen, die an diesem Tag dabei waren, erzählen von Freude und Begeisterung, als sie die weiträumige, mit viel Glas und offenen Konstruktionen spektakulär angelegte Freizeitanlage sahen, die nun jedem, der genügend Geduld und ein paar Münzen mitbrachte, offenstand. In den Jahren vor der Wende war das SEZ mit bis zu zehntausend Besuchern pro Tag nicht nur ständig ausgelastet – das gemeinsame, langsame Vorrücken in der Warteschlange zusammen mit Freundinnen und Freunden war schon Teil des Erlebnisses. Bleiben durfte man dann gerade mal zwei Stunden, damit auch die anderen noch an die Reihe kamen. Neben dem Spaßbad mit seinen ganzen Stegen, Kaskaden und zahlreichen Becken gab es im SEZ Räume und Hallen für Ballspiele, Gymnastik und Geräteturnen, dazu Bowlingbahnen, Billard- und Tischtennistische, eine Eis- und Rollschuhbahn, Muckibuden und diverse Restaurants, Cafés und Veranstaltungsräume sowie Sauna und Solarium, einen Friseur und Kinderbetreuung. Alles nach dem neuesten technischen und architektonischen Stand – und mit einer recht abenteuerlichen Entstehungsgeschichte, von derdas Publikum nichts ahnte.

Badespaß im SEZ zu zeiten der DDR

Geheimnisvolle Schweden 

Für das Prestigeprojekt zeichneten nämlich nicht volkseigene Baubetriebe und Architekturbüros verantwortlich, sondern eine nicht näher benannte schwedische Baufirma. Im Auftrag der Baudirektion der DDR Hauptstadt soll diese das Bauvorhaben in nur drei Jahren geplant und fertiggestellt haben. Das war allerdings nur der oberste Schleier der Wahrheit: Tatsächlich wurde der Berliner Sitz des westdeutschen Großbauunternehmens Hochtief aus Essen mit der Planung beauftragt. Ausgerechnet dort arbeitete ein ostdeutscher Architekt namens Günther Reiß, der erst wenige Jahre zuvor in den Westen geflüchtet war. Seine Beteiligung blieb geheim, bis sich der heute 83-Jährige Anfang 2024 an die Berliner Zeitung wandte und seine Version der Geschichte öffentlich machte. Als in den Westen geflüchteter DDR-Bürger konnte der Architekt in der Planungs- und Entwurfsphase nicht nach Ost-Berlin einreisen, um das zu bebauende Gelände in Augenschein zu nehmen. Doch das Grundstück an der heutigen Ecke Landsberger Allee/Danziger Straße war ihm vertraut, weil er zuvor in der Nähe gewohnt hatte. Auch seinen Beruf hatte er in der DDR erlernt und kannte sich darum mit den dortigen Baunormen und Materialgegebenheiten bestens aus. So plante Reiß die Anlage sozusagen ausdem Gedächtnis. Über die Baufortschritte – und schließlich über die Eröffnungsfeier, an der er ebenfalls nicht teilnehmen durfte, ließ er sich von seinen Westberliner Kollegen berichten. Erst kurz vor der Wende kehrte Rieß zur Beerdigung seines Vaters in die DDR zurück und sah sein Werk erstmals mit eigenen Augen. Nach eigenen Angaben war er begeistert, wie genau und hochwertig seine Planung umgesetzt worden war – übrigens ganz ohne Asbest. Davon ist heute nicht mehr viel zu sehen. 2003 war das SEZ für einen symbolischen Euro einem privaten Investor aus Leipzig verkauft worden, der damit nicht zurande kam und danach zwei Jahrzehnte im Rechtsstreit mit dem Senat über scheinbar verletzte Auflagen und verhinderte Betriebsmöglichkeiten lag. 2023 forderte der Senat den Bau zurück und verkündete 2024 den Abriss. Pläne für die Neubebauung des Geländes gab es aber bereits 2018 – ohne dass die außergewöhnliche gestalterische und baugeschichtliche Bedeutung gewürdigt wurde. Leider ist nicht auszuschließen, dass sie dem Senat, bis 2021 unter der Leitung einer Senatsbaudirektorin aus der Schweiz, einfach entgangen war. Doch der Protest formiert sich. Mehrere Petitionen für das SEZ wurden aufgelegt, die Architektenkammer Berlin forderte in einem Offenen Brief Erhalt und Sanierung. Unter dem Namen „SEZ für alle“ hat sich eine Bürgerinitiative formiert, an der sich etwa die Architects for Future beteiligen. Wie immer in Berlin dürfte es eine Weile dauern, bis klar ist, wie es weitergeht. Aber eines steht jetzt schon fest: In den letzten 34 Jahren ist es für viele einstige Ikonen der Ost-Berliner Architektur nicht gut gelaufen. Die spektakulären Bauten sind größtenteils aus dem Stadtbild verschwunden, an ihrer Stelle wurden der Wurschtigkeit der Ver- antwortlichen weitere Denkmale gesetzt. Es ist an der Zeit, dass es diesmal anders läuft. Noch sind keine Bagger da und es ist nicht alles verloren – eine neue Welle könnte das SEZ noch einmal ins Leben zurückholen.

Susann Sitzler

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