Was wäre eine Stadt ohne ihre Plätze? Manche sind groß, manche klein. Manche berühmt, manche unbekannt. Sie sind quirlige Touristenattraktionen oder lauschige Rückzugsorte für die Stadtbewohner. Plätze in der Stadt haben ihre Geschichte und kleinen Geheimnisse, die es zu ergründen lohnt.
Im Rücken der Kirche geht es spielerisch zu. Ein junges Paar, sie Französin, sitzt, umgeben von anderen Paaren, Singles, Familien, auf der weitläufigen Terrasse des Platzcafés. Madame hat die Füße samt überdimensional hochhackigen, knallroten Lederschuhen in den Schoß von Monsieur gelegt, der eine feine Stoffhose mit breiten Hosenträgern und dazu ein weißes Unterhemd trägt. Monsieur, Tänzerfigur, dreht ihr eine Zigarette, an der sie dann abwechselnd ziehen. Drüben an der Kirche spielt die halbwüchsige Tochter mit anderen halbwüchsigen Söhnen und Töchtern, ab und zu kommt sie herüber und nippt an ihrer Limonade.
Im Café Weyers sitzt man exklusiv, den Blick auf die Kirche mit Spielplatz und einem gepflasterten Areal im Muster von Dame- und Mühlebrettern. Am späten Nachmittag tringt man gern Hefeweizen und Aperol, die Kronen der Linden mildern die drückende Hitze, die über der Stadt liegt. Wie weggezaubert ist hier, die urbane Hektik der Stadt, nur ein paar hundert Meter vom Ku’damm entfernt. Zwei Araber spielen Tischtennis auf Beton, drei Jungs versuchen, an der Platte nebenan mit einem Basketball eine Variante von „Chinesisch“. Ein Mann mit Kopfhörern über den Ohren dreht auf einem Einrad unermüdlich seine Runden über den Platz und gestikuliert dabei mit den Armen wie ein Pantomimiker. Das Publikum schaut gelassen zu, keine Rufe, kein Applaus, als wüsste es, dass dies keine Performance ist, sondern Alltag.
Es gibt am Platz noch ein paar Häuser mit aufwendig gestalteten Fassaden aus der Anfangszeit um 1880, die erahnen lassen, wie es in dem großbürgerliche Areal einmal aussah. Aber sehr vieles wurde im Krieg zerstört und stark vereinfacht wieder aufgebaut. Auch die Kirche wurde von Bomben getroffen. Es ist Berlins erste katholische Kirche auf einem freien Platz. Denn meist wurden die Gotteshäuser aus Mangel an Plätzen oder an Geld der Gemeinden im Stadtraum zwischen zwei Häuser geklemmt.
St. Ludwig am Ende des 19. Jahrhundert zu errichten, wurde notwendig, weil es im Südwesten Berlins wie überall in den neu entstandenen Vorstädten eine akute „Kirchennoth“ gab. Wilmersdorf hatte 1890 erst 5 000 Einwohner, 1920 waren es durch einen ungebrochenen Zuzug aus Schlesien, Ostpreußen, Westfalen, dem Rheinland und Süddeutschland nach Berlin schon 140 000. Nachdem die Wilmersdorfer Terrain-Aktien-Gesellschaft dem Fürstbistum Breslau 1890 den Platz schenkte, der damals noch Straßburger Platz hieß, stand dem Kirchenbau eigentlich nichts mehr im Weg. Einzige Bedingung war: Es sollte eine monumentale Kirche sein.
Im Kirchenraum ist es kühl und still. Hier und da begegnet der Besucher dem Zeichen einer Lilie. Es ist die Lilie der Bourbonen. Die Gemeinde erbat sich bei Gründung 1897 den Heiligen König Ludwig IX. zum Namenspatron. Ludwig führte die Lilie dreifach in seinem Wappen. Die Legende erzählt, dass er seinen mit Lilien verzierten Schild einem Ritter aus dem Geschlecht der „Wilmerstorffer“ für seine besonderen Dienste geschenkt haben soll. So sei die Lilie in das Wappen von Wilmersdorf gekommen.
Die monumentale Kirche trennt den länglichen Platz, der ihren Namen trägt. Drüben, auf der anderen Seite, gibt es eine Grünfläche mit Blumenrabatten, Bänken und einem Springbrunnen, leider an diesem schwül-heißen Tag ohne Fontäne. Ein paar Leute haben sich ein ruhiges Plätzchen auf dem Rasen gesucht, dösen, lesen, träumen.
Am Rande des Platzes liegt seit zwei Jahrzehnten das Route 66, ein American Diner mit 400 Plätzen auf zwei Etagen drinnen und 600 draußen, roten Sitzbänken, Musikboxen, Burger und Cocktails und einem riesigen Cadillac-Cabriolet mitten im Raum. Das passt zur amerikabegeisterten Geschichte Westberlins, aber es stört die Harmonie des Platzes nicht weiter, die Pariser Straße schirmt den Platz vom Mittleren Westen ab.
Etwas unauffällig, als bräuchte es keine Laufkundschaft, liegt Berlins renommiertestes Zigarrengeschäft am Platz. Maximilian Herzog hat es 1996 mit begehbarem Humidor und Raucherzimmer eröffnet. So etwas gab es bis dahin nicht in Berlin. Mittlerweile ist ein zweiter Laden am Osthafen hinzugekommen, einer für die Traditionalisten Wilmersdorfs, einer mit regelmäßigen Events für die nächste Zigarrengeneration von der Spree.
An der Eckkneipe gleich neben Herzog lädt ein Lieferant eine Ladung Getränke ab. „Ick koof bei Lehmann“ steht auf dem Lieferwagen. So hat man sich nach dem Mauerfall Wilmersdorf vorgestellt: als altes Westberlin, mit Harald Juhnke und Günter Pfitzmann und Wilmersdorfer Witwen. Diese Klischees kann man am Ludwigkirchplatz überprüfen. Dann ist man überrascht, wie selbstverständlich und unaufgeregt lässig hier das Bürgerliche gelebt wird, ganz anders als in Prenzlauer Berg, wo es einem so vorkommt, als muss sich jeder ständig beweisen, dass er zu den coolen Großstädtern in seinen Turnschuhen gehört. Am Ludwigkirchplatz trägt man zu Jeans ganz selbstverständlich Slipper.