Das Landesdenkmalamt Berlin hat im September 2021 das Wohnquartier an der Wilhelmstraße in Mitte unter Denkmalschutz gestellt. Die Meinungen zu dieser Entscheidung gehen weit auseinander.
Ist das Wohnquartier an der Wilhelmstraße ein Denkmal? Diese Frage wird aktuell lebhaft diskutiert. Während Berlins Landeskonservator Christoph Rauhut von „einem Leuchtturmprojekt der Ost-Berliner Hauptstadtplanung“ spricht, kommt von der Gesellschaft Historisches Berlin e. V. grundsätzliche Kritik an der Entscheidung des Landesdenkmalamts. Der Verein sieht darin eine „fatale Fehlentscheidung“. Das unvollendete Ensemble sei ein Versuch gewesen, das Todesstreifengelände städtebaulich aufzuwerten, erklärt Gerhard Hoya, Vorstandsvorsitzender des Vereins. Eine Denkmalwürdigkeit kann er nicht erkennen.
Und wie begründet das Landesdenkmalamt seine Entscheidung? In der „Information zur Fortschreibung der Denkmalliste Berlin“ vom 30. August 2021 heißt es: „Direkt an der Grenze zwischen Ost- und West-Berlin gelegen, in unmittelbarer Nähe zum Brandenburger Tor, das von Touristen aus dem In- und Ausland besucht wurde, kam dem Quartier eine herausragende Rolle im Wettbewerb der politischen Systeme zu. Folgerichtig fiel das Projekt in die Verantwortung der ‚Baudirektion Hauptstadt Berlin des Ministeriums für Bauwesen‘ unter Leitung von Erhardt Gißke, der den in Planerkreisen der DDR hoch angesehenen Helmut Stingl aus dem Wohnungsbaukombinat Berlin als Chefarchitekt einsetzte.“ Dabei zitiert das Amt die DDR-Architektin und Stadtplanerin Dorothea Tscheschner, nach der der Architekt das Quartier als „Krönung seiner Arbeit“ verstanden haben will.
Wie aber sah Stingl selbst sein Werk? Die Journalistin Anja Reich, die von 1992 bis 1999 in der Wilhelmstraße gewohnt hat, ist bei ihren Recherchen für einen Artikel über ihre Wohnadresse auf eine Audiokassette mit dem Mitschnitt eines Interviews gestoßen, das der im Dezember 2000 verstorbene Architekt vor seinem Tod einer Buchautorin gegeben hat. „Auf der Kassette erzählt er“, so berichtet Reich in ihrem Artikel vom 16. November 2012 in der Berliner Zeitung, „wie er das Gebiet um die Wilhelmstraße 1984 vorgefunden hat: Nichts sei da gewesen außer drei Nazi-Bunkern, und die seien alle gesprengt worden.“ Und ein wenig später schreibt sie: „Übers Wohngebiet sagt er, dass alles vorgegeben war, 1 000 Wohnungen, öffentliche Einrichtungen, ein Stadtplatz mit Brunnen, Kunst am Bau im Wert von 912 000 Ost-Mark. Die meisten Anordnungen aber betrafen die Staatsgrenze, sagt Stingl. Keine begehbaren Dächer, keine Treppenhäuser Richtung Grenze, keine Wohnzimmer, keine Terrassen. Bäume auf der Straße durften nicht höher als 14 Meter sein, die Stämme vier, die Wipfel zehn, und wachsen durften sie auch nicht mehr. Nüchtern zählt Helmut Stingl diese Dinge auf, wie jemand, der daran gewöhnt ist, nicht das machen zu können, was er für richtig hält.“
In ihrem Artikel zitiert Reich auch Stingls Sohn Alexander, der sich daran erinnert habe, dass sein Vater „mal zu ihm sagte, er versuche, mit seinen Möglichkeiten das Beste zu machen. ‚Er war eigentlich Bauhaus-Fan und ihm war schon klar, dass das, was er so gebaut hat, nicht die beste Architektur war.‘“
In einem Nachruf auf Stingl von Torsten Hampel im Tagesspiegel vom 10. Januar 2001 kommt das Wohngebiet an der Wilhelmstraße nur als „das letzte von ihm geplante Viertel“ vor. Dagegen heißt es zuvor: „Wer heute in Berlin ein typisches Stingl-Haus sucht, der findet es in den 12-eckigen Wohntürmen an der Holzmarktstraße oder im Thälmann-Park, auch entlang der Allee der Kosmonauten in Marzahn stehen sie.“
Zur Architektur in der DDR und Stingl heißt es: „In der Mitte der 70er-Jahre waren die Architekten komplett entmachtet, sie hatten nichts zu sagen. Die Wohnungsbaukombinate wollten hohe Wohnungsstückzahlen produzieren und das ging nur mit einer strengen Standardisierung in der Vorfertigung, in den Plattenwerken. Die Einförmigkeit der Grundrisse, der Wohnungstypen und des Städtebaus waren nicht politisch motiviert, es ging nur ums Geld.“
Nach alledem erscheint das Wohnquartier an der Wilhelmstraße nicht unbedingt als „anschauliches Zeugnis für den in den 1970er- und 1980er-Jahren erfolgten Paradigmenwechsel in der Stadtentwicklung.“ War es nicht vielmehr so, „dass das Quartier bis dahin für die gesellschaftliche und politische Elite der DDR und parteitreue Genossinnen und Genossen konzipiert worden war“, wie selbst das Landesdenkmalamt in der bereits oben erwähnten Information feststellt.
Darüber hinaus ist die Frage erlaubt, ob es wirklich im „Interesse der Allgemeinheit“ liegt, ein Wohnquartier zu erhalten, für das die Volkspolizei eine ganze Reihe von Auflagen und Vorgaben formuliert hatte wegen der Nähe zu der Grenzanlage, an der noch während der Bauzeit am 5. Februar 1989 mit Chris Gueffroy der letzte Mauertote in der DDR zu beklagen war. Vor diesem Hintergrund klingt der nachfolgend zitierte Satz aus der bereits mehrfach erwähnten Information des Landesdenkmalamtes wie blanker Hohn: „Die Gleichsetzung der gesellschaftlichen und politischen Eliten in Preußen und der DDR, die offensichtlichen Privilegien und aus der Alltagsversorgung und dem Alltagsleben der DDR herausgehobenen Angebote, die den neuen Bewohnerinnen und Bewohner hier gemacht wurden, und nicht zuletzt der sinnbildliche Übertragungsversuch der funktionalen, baulichen und räumlichen Wirkung der Akzisemauer auf die Grenzanlagen der DDR sind Ausdruck eines Geschichts- und Traditionsverständnisses, wie es in keiner zweiten Wohnanlage der DDR zum Ausdruck gebracht wurde.“
Als die Mauer 1989 fiel, war allerdings nur die Hälfte der Häuser der Wohnanlage an der Wilhelmstraße fertig. „Die anderen wurden noch zu Ende gebaut“, schreibt Anja Reich und ergänzt, „obwohl es auch damals schon Zweifel gab, ob Plattenbauten in diese Straße gehören.“
Führt man nur die hier aufgeführten Punkte einmal zusammen, wirkt die Entscheidung des Landesdenkmalamtes eher wie ein krampfhafter Versuch, ein komplett marodes und abgewirtschaftetes Staatssystem und dessen Ende in einen völlig anderen geschichtlichen und städtebaulichen Kontext zu stellen. Die Wilhelmstraße ist gewiss historisch und hätte etwas Besseres verdient. Aber nach alledem ist die Wohnanlage ganz sicherlich kein schützenswertes Denkmal, was eine weitere Frage aufwirft: Cui bono?
Ein Blick in das politische Organigramm Berlins hilft weiter. Das Landesdenkmalamt ist der Senatsverwaltung für Kultur und Europa nachgeordnet, der seit 2016 Klaus Lederer (Die Linke) vorsteht. Dieser Partei gehörte auch der seinerzeit amtierende Senator für Stadtentwicklung und Wohnen, Sebastian Scheel, an, als die Wohnanlage zum Denkmal erklärt wurde. Die Linke wiederum entstand am 16. Juni 2007 durch Verschmelzung der SPD-Abspaltung WASG und der Linkspartei PDS. Letztere war im Juni 2005 durch Umbenennung aus der SED-Nachfolgepartei PDS hervorgegangen. Honi soit qui mal y pense oder um es im Sinne von Johann Wolfgang von Goethe zu formulieren: Man merkt die Absicht und ist verstimmt.