Das Klischee sagt: Jugendkultur in der DDR hieß staatlich gelenkte FDJ und ihre totalitären Aufmarschrituale. Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Gleich mehrere Filme und Ausstellungen befassen sich mit der vitalen, anarchistischen Kraft von musikalischen und künstlerischen Subkulturen in der DDR – und wie sie auch der Westen langsam entdeckt
Otze hatte so viel Wut in sich, dass das Schlagzeug, auf das er drosch, mit jedem Schlag näher zum Bühnenrand wanderte. Seine kritischen Texte, die er dabei brüllte, sang der ganze Saal mit. Daran erinnern sich manche, die dabei waren. Und auch daran, dass man, wenn man in der DDR wie Otze zur Punkszene gehörte, die eigenen Kumpels immer wieder für Monate oder länger nirgendwo antraf, weil sie wieder einmal auf unbestimmte Zeit im Knast saßen. Einfach nur, weil sie ihre Jeans zerrissen oder die bunten Haare in die Senkrechte geklebt hatten. Durch die Intensität ihrer Auftritte hatte die Punkband Schleimkeim, vom Bauernsohn Dieter „Otze“ Ehrlich 1980 in der thüringischen Provinz gegründet, nach wenigen Konzerten Kultstatus. Und sie wird trotz des frühen Todes des Sängers bis heute gehört. Davon erzählt der Regisseur Jan Heck in seinem Dokumentarfilm „Schleimkeim – Otze oder die DDR von unten“, der im April bundesweit in die Kinos kam. Ebenso laut, aber wesentlich unpolitischer waren die „Heavys“ oder „Metaller“. Der ostdeutschen Ausprägung Das Klischee sagt: Jugendkultur in der DDR hieß staatlich gelenkte FDJ und ihre totalitären Aufmarschrituale. Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Gleich mehrere Filme und Ausstellungen befassen sich mit der vitalen, anarchistischen Kraft von musikalischen und künstlerischen Subkulturen in der DDR – und wie sie auch der Westen langsam entdeckt der Heavy Metal-Subkultur widmet das Museum in der Kulturbrauerei seine neue Ausstellung – dabei führen ehemalige Protagonisten durch die Exponate
Intellektuell subtiler, aber ebenfalls unerbittlich und energiegeladen agierte ab Mitte der 1980er- Jahre eine Gruppe von avantgardistischen Performance-Künstlerinnen und -künstlern an der Hochschule für Bildende Künste in Dresden. Sie nannte sich „Autoperforationsartisten“ und das war wörtlich zu verstehen. Bei ihren Auftritten schlitzten die Performer ihre Haut auf, begossen sich mit Tierblut oder hantierten mit Objekten in Körperöffnungen. Schock und Ekel wurden subversiv eingesetzt, um das Publikum aus seiner Lethargie zu reißen. Dokumente dieser Happenings sind jetzt in einer Ausstellung im Berliner Kulturverein Ost zu sehen
Mangel an Räumen und Ressourcen Die Ressourcenknappheit der DDR prägte alle diese Subkulturen. Schallplatten, Musikmagazine und szenetypische Accessoires waren kaum zu kaufen – Heavy oder Punk zu sein hieß, seine Nietenarmbänder, Lederjacken, Band-T-Shirts oder sogar Gitarren und Schlagzeuge selbst zu basteln. Auch öffentliche Veranstaltungsorte, an denen die Stasi nicht schon auf Beobachtungsposten stand, gab es kaum. Deren Vertreterinnen und Vertreter fanden sich ohnehin zuverlässig in jedem Publikum. Aber im Einflussbereich der Kirchen konnte der Staat nur begrenzt zugreifen – nicht nur Schleimkeim trat darum oft im Rahmen von kirchlichen Veranstaltungen auf. Außerhalb der Schutzräume war die Repression umso gnadenloser. Noch 1988 hatte der Stasichef Erich Mielke in einer Sitzung des MfS auf „nach westlichen Verhaltensmustern auftretende Kräfte wie Punks, Schi- Heads“ – gemeint waren rechtsradikale Skinheads – „Heavy Metals und deren Sympathisanten, aber auch sogenannte Cofids“ – gemeint waren Goths oder „Gruftis“ - gezielt. Die unpolitischeren Subkulturen versuchte man auch zu integrieren. Heavy Metal wurde im staatlichen Jugendradio gespielt, Hiphopper in öffentlichen Wettbewerben domestiziert. Für Punk galt das nicht. Die erste Plattenveröffentlichung von Schleimkeim erschien im Westen – auf den Weg gebracht vom später enttarnten Stasi-Spitzel Sascha Anderson, der ebenfalls in der Untergrundmusik- und literaturszene aktiv war.
Obwohl die ostdeutschen Jugendsubkulturen vielfältig, facettenreich und immer wieder überraschend radikal waren, sind sie für viele im Westen unbekannt geblieben. Erst langsam weitet sich der Fokus für diesen Teil der Geschichte. Regisseur Jan Heck, der in seinem hochgelobten Kinofilm der Szene um Schleimkeim ein Denkmal setzt, wurde 1991 in Westdeutschland geboren und lernte die Band erst viele Jahre nach deren Ende kennen – als Jungpunk in Baden-Württemberg. Der Dresdner Lyriker Durs Grünbein, der in seinen Frühzeiten gemeinsam mit den Autoperforationsartisten auftrat, gehört längst zum bundesweiten Kulturkanon. Lediglich nach Spuren der DDR-Metaller muss man heute suchen. Der Bassist der Erfurter Metalband Blitzz, Jens Hellmann, trat nach der Wende als Comedian Vicki Vomit auf und schaffte es immerhin 1994 mit seinem satirischen Song „Arbeitslos und Spaß dabei“ in die ewigen Mitgröl-Charts der damaligen Spaßgesellschaft. Popkultur nährt sich immer aus Gegenwart und jüngster Vergangenheit. In Deutschland gehören dazu die Beiträge aus dem Osten mit ihrer ganz eigenen, oft wesentlich radikaleren, gesellschaftskritischeren Färbung. Gut dreißig Jahre nach der Wende werden sie nun auch im Westen langsam entdeckt.
Schleimkeim – Otze und die DDR von unten
Dokumentarfilm von Jan Heck,
seit März bundesweit in den Kinos.
„Heavy Metal in der DDR“ – Museum in der Kulturbrauerei, bis 9. Februar 2025.
„DIE AUTO-PERFORATIONS-ARTISTEN“ – Kunstverein Ost, vom 25. April bis 27. Juli 2024