Nun ist sie vorbei, die umstrittene Fußball-Weltmeisterschaft in Katar. Auch diesmal gab es im Vorfeld – meist etwas abseits der öffentlichen Berichterstattung – ein Tauziehen der Länder um einzelne Spieler für ihre Nationalmannschaften.
Immer mehr Spieler haben die Möglichkeit, sich die Länder auszusuchen, für welche sie das Nationaltrikot tragen möchten. Entweder haben Sie eine doppelte Staatsbürgerschaft durch zum Beispiel die verschiedenen Wurzeln ihrer Eltern. Oder sie erfüllen durch eine internationale Vereinsverpflichtung die Voraussetzung für eine von der FIFA anerkannte Einbürgerung, mindestens zwei Jahre im neuen Land gelebt zu haben.
Das ist zumindest theoretisch so. Denn hat ein Spieler erstmal ein A-Länderspiel als Erwachsener für ein Land bestritten, kann er nicht mehr für eine andere Nation in einem Wettbewerb antreten. Dies verbietet das Statut der FIFA seit 1964. Es gilt also für die Landesverbände, die jungen Talente rechtzeitig für die eigene Nationalmannschaft zu gewinnen.
Früher war es den Spielern möglich, die Farben mehrerer Nationalmannschaften nacheinander zu tragen, wenn sie deren Nationalität besaßen: Man bürgerte Fußballer dafür einfach bei sich ein. Schon sehr früh warben Verbände um Spieler anderer Nationen. Vor der WM 1934 in Italien bemühte sich der italienische Diktator Benito Mussolini darum, eine aussichtsreiche Truppe zusammenzustellen – und bediente sich dafür in Südamerika: Bei der WM 1930 noch mit Argentinien im Finale, wird Luis Monti der erste Spieler, der in zwei aufeinanderfolgenden WM-Finalen spielt. Auch mittels drei weiterer eingebürgerter Argentinier geht der Plan der Italiener auf und sie werden Weltmeister.
Diese Entwicklung setzte sich nach dem Zweiten Weltkrieg fort. So spielte Alfredo Di Stéfano, einer der bekanntesten Spieler seiner Zeit, zuerst 1947 für sein Geburtsland Argentinien, danach für Kolumbien (1949) und zu guter Letzt für Spanien (1957 bis 1961). Ferenc Puskás, der berühmte Kapitän der ungarischen Nationalmannschaft, die als hohe Favoritin das WM-Finale von 1954 gegen die deutsche Nationalmannschaft verlor, emigrierte nach der Niederschlagung des ungarischen Volksaufstandes 1956 nach Spanien und spielte nach Ablauf einer 18-monatigen Sperre der FIFA an der Seite von Alfredo Di Stefano für Real Madrid. Mit Real wurde er dreifacher Europapokalsieger der Landesmeister, mehrfach Landesmeister und spielte nach seiner Einbürgerung bei der WM 1962 für Spanien.
Mit 22 Jahren wurde Rainer Bonhoff 1974 – als damals jüngster Deutscher – Fußballweltmeister. Bonhof hatte jedoch niederländische Vorfahren und einen niederländischen Pass. Er wuchs in der Grenzregion auf deutscher Seite auf und wurde als Junior eingebürgert. Im Finale von 1974 gab er die Vorlage für das Siegtor der deutschen Mannschaft. Der Gegner: die Niederlande.
Sean „Crocodil“ Dundee war als gebürtiger Südafrikaner in Deutschland aufgewachsen und Mitte der 1990er-Jahre ein erfolgreicher Torjäger bei seinem Verein, dem Karlsruher SC. Als solchen benötigte ihn damals auch die deutsche Nationalmannschaft und signalisierte die Möglichkeit einer Einbürgerung. Um sich diese Möglichkeit offenzuhalten, täuschte Dundee 1995 bei seinem geplanten Länderspieldebüt für Südafrika beim Aufwärmen eine Verletzung vor, um nicht aufs Spielfeld zu müssen und damit nicht seine Chance zu verlieren, in Zukunft für Deutschland spielen zu können. Der Gegner im Dezember 1995 in Johannesburg war übrigens ausgerechnet Deutschland. Kaum eingebürgert, ließ jedoch sein fußballerisches Können nach und es kam nie zu einem Länderspieleinsatz für Deutschland in der ersten Nationalmannschaft.
2004 entschied die FIFA, dass Spieler, die eine neue Staatsbürgerschaft ohne Bezug zu diesem Land annehmen, keine Spielberechtigung für die Nationalmannschaften dieses Landes erhalten. Zur Erlangung der Spielberechtigung für ein neues Land müssen nunmehr gewisse Voraussetzungen erfüllt sein. Entweder der Spieler, ein Eltern- oder ein Großelternteil, muss auf dem Gebiet des betreffenden Verbandes geboren sein. Oder der Spieler hat für mindestens zwei Jahre ununterbrochen im Gebiet des betreffenden Verbandes gelebt. Auslöser dieser Entscheidung der FIFA war der Plan einiger brasilianischer Spieler – darunter auch der damals für Schalke 04 spielende Ailton, für die Nationalmannschaft von Katar zu spielen. Sie beriefen sich dabei auf die FIFA-Statuten, wonach ein Spieler, der nie in einer Nationalmannschaft zum Einsatz gekommen ist, eine andere Staatsangehörigkeit annehmen und für sein neues Land spielen kann. Pikanterweise hatte Ailton davor auch angeboten, für die deutsche Nationalmannschaft aufzulaufen.
Aufsehenerregend ist in diesem Zusammenhang auch das zweimalige Aufeinandertreffen der Halbbrüder Boateng bei einer Fußballweltmeisterschaft. Beide in Berlin geboren, entschied sich der jüngere Jerome, für Deutschland zu spielen, während der ältere Kevin-Prince aufgrund der Herkunft seines Vaters für Ghana auflief. 2010 in Südafrika trafen beide Länder in der Gruppenphase aufeinander – und die Halbbrüder standen sich als Gegner gegenüber. Deutschland gewinnt 1:0 durch ein Tor von Mesut Özil, von dem später auch noch die Rede sein wird. Vier Jahre später bei der WM in Brasilien geht das Gruppenduell 2:2 aus, wobei beide „Boatengs“ nur in der ersten Halbzeit gegen einander antreten. Der weitere Verlauf dieser WM für die Beiden konnte unterschiedlicher nicht sein: Jerome wird mit Deutschland Weltmeister, Kevin-Prince wird vom Trainer suspendiert und Ghana scheidet in der Gruppenphase aus.
Aus der jüngeren Vergangenheit sind des Weiteren die in Polen gebürtigen und mit ihren Eltern als Aussiedler nach Deutschland gekommenen Miroslav Klose und Lukas Podolski in Erinnerung. Beide wurden 2014 mit Deutschland Fußballweltmeister.
Wie auch Mesut Özil, als Sohn türkischer Eltern in Gelsenkirchen geboren, der als 18-jähriger die deutsche Staatsangehörigkeit annahm – und seine türkische Staatsangehörigkeit ablegte. Kontroversen entfachte ein Foto von ihm mit dem türkischen Staatspräsidenten Erdogan im Mai 2018 in London – in der heißen Wahlkampfphase der türkischen Präsidentschaftswahlen und unmittelbar vor Beginn der Fußball-WM in Russland. Dies konnte auch ein eilig anberaumtes Treffen von ihm und dem deutschen Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier nicht mildern. Aufgrund der Debatten um dieses Foto, des enttäuschend frühen Ausscheidens der deutschen Nationalmannschaft aus dem WM-Turnier und den damit verbundenen Schuldzuweisungen gegenüber Mesut Özil, trat er kurz darauf aus der Nationalmannschaft zurück.
Im aktuellen Kader der deutschen Nationalmannschaft für die laufende Fußball-Weltmeisterschaft stehen neun Spieler mit ausländischen Wurzeln. Einer dieser Spieler ist Jamal Musiala. Der in Stuttgart geborene Sohn einer Deutschen mit polnischen Wurzeln und eines Nigerianers zog mit seinen Eltern in früher Kindheit nach London. Seit 2011 spielte er acht Jahre lang für den dort ansässigen FC Chelsea in den Nachwuchsmannschaften. Er spielte auch in der englischen U15 Nationalmannschaft, lief 2018 aber auch für die deutsche U16 Auswahl auf.
2019 wechselte er zu Bayern München und 2021 war sein erster entscheidender Kurzeinsatz für die deutsche Nationalmannschaft. Schuld für Musialas „Überlaufen“ war laut dem Trainer der englischen Nationalmannschaft jedoch der Wechsel vom FC Chelsea zum FC Bayern München: „Er hat bei Bayern München mit acht Spielern aus der deutschen Nationalmannschaft trainiert, die hatten Gelegenheit, ihn zu beeinflussen“, sagte Gareth Southgate.
Katars Fußball-Nationalmannschaft ist ein Team der Gastarbeiter- und Einwanderer-Kinder. Die „volle“ katarische Staatsbürgerschaft haben wohl die meisten Spieler nicht. Insofern könnte man sie als „Bürger zweiter Klasse“ bezeichnen, denn sie genießen als Einwandererkinder nicht die Privilegien, die ein katarischer Staatsbürger hat. Katar, wie auch einige andere Golfländer, nutzt da eine Lücke im internationalen System, in dem es teilweise Athleten in internationale Wettbewerbe schickt, die nur einen sogenannten Mission-Passport haben. Das ist eigentlich ein Ausweis, der nur verwendet wird, um an diesen internationalen Wettbewerben teilzunehmen. Hier wäre die FIFA in der Pflicht, einheitliche Regeln zu machen. Der erste Sportverband, der dies umgesetzt hat, ist der Welt-Leichtathletik Verband, der vor zwei Jahren festgelegt hat, dass nur Sportler mit einer vollen Staatsbürgerschaft ihr Land im internationalen Sport repräsentieren können.