Wenn die Psyche das Herz aus dem Takt bringt. Immer mehr Menschen leiden unter Stress – Eine Studie zeigt Bezug zu Herzdiagnosen
Krisensituationen, Ärger am Arbeitsplatz, Streit in der Familie, Mobbing in sozialen Medien: Immer mehr Menschen stehen unter Druck. Laut einer aktuellen forsa-Umfrage im Auftrag der KKH Kaufmännische Krankenkasse fühlen sich 84 Prozent der 18- bis 70-Jährigen zumindest gelegentlich gestresst, 43 Prozent sogar häufig oder sehr häufig. Das Alarmierende: Die Belastung nimmt offenbar zu. So hat gut jeder zweite Befragte das Gefühl, dass das Leben in den vergangenen ein bis zwei Jahren anstrengender und stressiger geworden ist.
Stress wird häufig als harmlose Begleiterscheinung des Alltags oder gar als Statussymbol in der heutigen Leistungsgesellschaft wahrgenommen, dabei kann er ernste Folgen für die Gesundheit haben. „Dauerstress gehört neben Rauchen und zu hohem Alkoholkonsum zu den wichtigsten vermeidbaren Risikofaktoren für Herz-Kreislauf-Erkrankungen“, sagt Ärztin Dr. Sonja Hermeneit von der KKH. Daten der Ersatzkasse zeigen, dass bei Versicherten mit Erkrankungen des Herzens und der Blutgefäße wie Bluthochdruck, Angina Pectoris und Herz-Rhythmusstörungen, der Anteil der Patienten mit stressbedingten psychischen Leiden um rund ein Viertel höher ist als im Allgemeinen. Zu diesen seelischen Krankheitsbildern zählen akute Belastungsreaktionen, depressive Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen sowie Neurasthenie, die mit extremer Antriebslosigkeit und geistiger Erschöpfung einhergeht. Bedenklich: Der Anteil der stressgeplagten Herzpatienten ist in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen laut KKH-Daten. Demnach haben Herz-Kreislauf-Erkrankungen im Allgemeinen von 2011 auf 2021 um rund 17 Prozent zugenommen. Der Anstieg von Herz-Kreislauf-Erkrankungen plus der genannten psychischen Diagnosen aber fällt im selben Zeitraum mehr als doppelt so hoch aus (rund 37 Prozent). Mittlerweile erhält durchschnittlich jeder zehnte Herzpatient eine Stressdiagnose.
Die forsa-Umfrage zeigt, dass Jüngere eher unter Druck stehen als Ältere: 18- bis 49-Jährige fühlen sich demnach öfter gestresst als 50- bis 70-Jährige.
tem auf Hochtouren: Die Aufmerksamkeit wird geschärft, das Herz schlägt schneller, der Blutdruck steigt. Psyche und Körper sind aber auch auf Entspannungsphasen angewiesen. Bleiben diese aus, entsteht Dauerstress. Und der kann im schlimmsten Fall zu einem Herzinfarkt, einer Herzschwäche, Herzrhythmusstörungen oder Herzversagen führen. „Bei anhaltendem Stress nehmen wir außerdem häufig Verhaltensweisen an, die der Gesundheit zusätzlich schaden“, erläutert Sonja Hermeneit. „Wir bewegen uns oft weniger, essen mehr oder ernähren uns ungesünder, trinken mehr Alkohol.“
Dies zeigen auch die Ergebnisse der forsa-Umfrage: 64 Prozent faulenzen und 61 Prozent sehen fern, lesen, surfen im Internet oder spielen Computerspiele, um dem Druck zu entfliehen. Jeder vierte Befragte trinkt zur Entspannung ein Glas Alkohol oder raucht eine Zigarette. Positiv wiederum: 67 Prozent bewegen sich zum Ausgleich mehr. Sie gehen beispielsweise spazieren oder treiben Sport. Jeder Vierte praktiziert zum Stressabbau Entspannungstechniken wie Mediation oder Yoga. „Das ist genau richtig“, sagt die KKH-Ärztin. Denn: In den meisten Fällen können mehr Bewegung, ein gezieltes Stressmanagement und Entspannungstechniken das Risiko für einen stressbedingten Herztod deutlich senken. Doch man müsse auch die psychosoziale Situation von Patienten im Blick behalten, betont Hermeneit. „Während zu wenig Bewegung, schlechte Ernährung, Alkohol und Rauchen als kardiovaskuläre Risikofaktoren unangefochten sind, werden psychische Belastungen oft nicht in gleicher Weise berücksichtigt. Dabei reicht es meistens schon, wenn Ärzte ihre Patienten gezielt auf deren Lebenssituation und das psychische Befinden ansprechen.“, weiß die Ärztin.
Ganzheitlicher Blick auf den Patienten – was bringt er?
Auch Professor Dr. Kai Kahl von der Medizinischen Hochschule Hannover ist es ein Anliegen, dass Herzpatienten noch stärker in ihrer gesamten Person betrachtet und behandelt werden. „Dank der modernen Herzmedizin ist die Zahl der Todesfälle durch schwere akute Herzerkrankungen inzwischen rückläufig“, sagt der Psychokardiologe. Doch soweit müsse es gar nicht erst kommen. „Mittlerweile können wir die wechselseitige Beziehung zwischen Herz und Seele sehr gut erforschen und untersuchen. Je früher dies geschieht, desto besser: Werden leichtere psychische Erkrankungen wie akute Belastungsreaktionen und Anpassungsstörungen erfolgreich behandelt, noch bevor sie in ein schwereres seelisches Leiden wie eine Depression münden, sind die Chancen deutlich besser, dass das Herz nicht in Mitleidenschaft gezogen wird.“ Die Psychokardiologie werde in der Medizin beziehungsweise bei der Behandlung betroffener Patienten aber immer noch zu selten eingesetzt, sagt Kahl.
Betroffene können aber auch schon selbst viel tun, damit der Stress gar nicht erst zu Herzen geht. Wichtig für die Gesundheit und Leistungsfähigkeit ist ein ausgewogener Wechsel zwischen stressreichen, angespannten Situationen und Entspannung. Diese für den Kopf und Körper wichtige Balance kann entscheidend dazu beitragen, kurzzeitigen Stress als etwas Positives und Aktivierendes wahrzunehmen und nicht als Belastung.