Die aus der Graffitibewegung hervorgegangene Streetart prägt heute viele urbane Landschaften. In Berlin widmet sich ein Museum dieser Kunst – und ermöglicht neue Perspektiven auf das, was manche Leute noch immer als ärgerliche Schmiererei wahrnehmen
Berlin kann so fies grau sein. Und es kann so schön grellbunt sein – und beides nicht nur gleichzeitig, sondern manchmal auch am selben Ort. Zum Beispiel an der Bülowstraße. Wenn man am hinteren Ende des Nollendorfplatzes aus der U-Bahn steigt, ist das Stadtbild zusammengewürfelt aus klobigen Neubauten, die in die Jahre gekommenen sind, und üppigen Gründerzeitfassaden aus besseren Zeiten. Viele Mauern sind mit Schmierereien verschandelt und durch die Trasse der Hochbahn liegt beinahe ein Hauch New York in der Luft, schäbig und urban zugleich. Und dann ist da an der Ecke zur Zietenstraße dieses überbordend farbige Eckhaus. Dieses Haus beherbergt das „Urban Nation Museum for Urban Contemporary Art“ – ein Museum für zeitgenössische urbane Kunst.
Streetart als Kunstrichtung hat sich aus der Graffiti- und Hiphop-Kultur in New York entwickelt und von da aus in die Großstädte der Welt ausgebreitet. Sie zeichnet sich aus durch großflächige, grelle Motive, Wucht, Frische und Energie. Man ahnt förmlich die schnellen, energischen Bewegungen, mit denen die Sprayer die knalligen Farben auftragen – schließlich war und ist Sprayen meist illegal und ein Werk musste fertig sein, bevor die Polizei kommt. Auch wenn Streetart inzwischen eine etablierte Kunstform mit Kuratoren und Ateliers ist und sich stilistisch in viele Richtungen weiterentwickelt hat, lebt sie immer noch von dieser dynamischen Energie.
Die aktuelle Dauerausstellung im Urban Nation Museum heißt „Talking …& other Banana skins“ – die Tücken der Kommunikation. Es geht darin um die großen Themen der Gegenwart und darum, wie wir als globale Gesellschaft über diese Themen sprechen: Umweltzerstörung, Rassismus, Ungerechtigkeit. Verstehen wir die Positionen der anderen? Sind wir in der Lage, eine andere Perspektive zu akzeptieren?
In der Ausstellung steht dazu das fotorealistische Gemälde eines gealterten, abgekämpften Superhelden von An-dreas Englund neben dem stilisierten Abbild einer Kuh, die von Schauspieler Joaquin Phoenix umarmt wird, womit der griechische Künstler Le Fou für Veganismus wirbt. Daneben hängt ein Maschinengewehr von Ravi Amar Zupa, das bei näherer Betrachtung aus Teilen einer alten Schreibmaschine zusammengebaut ist. Ein Gemälde von Jan Van Esch porträtiert detailgetreu und strahlend farbig ein paar weggeworfene Kleidungsstücke, die der Künstler in Berlin auf der Straße gefunden hat.
Was die Werke der aktuellen Ausstellung alle gemeinsam haben: Wucht, Frische und leuchtende, starke Farben. Neben Gemälden und Fotografien sind auch Installationen zu sehen.
Für sein großformatiges „Selbstbildnis“ imitierte der Berliner Künstler Björn Heyn eine Kinderzeichnung – indem er auf einer Kinderschaukel immer wieder zur Leinwand schaukelte und den nächsten Strich aufmalte. Der Akt des Malens ist auf Video zu sehen, die Schaukel und das Bild sind ausgestellt.
Doch Streetart ist nicht nur kraftvoll, energisch und verspielt, sondern meist auch politisch. In „Thank you for the memories” symbolisiert die Broken Fingaz Crew aus Israel die Einflussnahme der USA im Nahen Osten im Stil von grellen Abziehbildern mit düsterem Inhalt.
Streetart verändert den Blick auf die Welt und auf die Stadt, weil sie vom Perspektivwechsel lebt. Wer sie nicht mag oder nicht erkennt, sieht in den wilden Spraywerken nur Vandalismus, Angriff und Respektlosigkeit. Wer ihre Zeichen lesen kann und ihre Dynamik liebt, sieht darin eine kraftvolle Aussage: Die Stadt gehört allen – nicht nur denen, die die Häuser besitzen. Ins Leben gerufen wurde das Urban Nation Projekt vor fünf Jahren übrigens ausgerechnet von einem der großen Hausbesitzer Berlins, der städtischen Baugenossenschaft Gewobag.
Angeschlossen sind Angebote für Schulen und ein Aufenthaltsprogramm für Artists in Residence aus ganz Europa mit Atelierwohnungen direkt über dem Museum. Rund um das Haus finden regelmäßig Führungen entlang der Kunstwerke in den Straßen statt. Vor kurzem wurde sogar am Rand der Ausstellung eine kunstgeschichtliche Studienbibliothek eröffnet. Die Martha Cooper Library versammelt Literatur zur Entwicklung von Streetart, Graffiti und visueller Kunst im Stadtraum seit den 1960er-Jahren und dokumentiert auch die Anfänge in der illegalen Subkultur mit Fanzines und anderen Artefakten. Namensgeberin ist die amerikanische Fotografin Martha Cooper, die als eine der ersten in den 1970er-Jahren begann, die neue Form der Graffiti- und Hiphop-Kultur in New York mit ihrer Kamera zu dokumentieren und die die Bibliothek mit ihren Schenkungewnbegründet hat.
Die Buntheit der Streetart wurzelt in der Illegalität der Graffitikultur. Jetzt ist sie, zumindest in Berlin, mit einem Bein im Museum angekommen. Buchstäblich nur einen Schritt von der Straße gibt Urban Nation der wilden Kunst des öffentlichen Raums einen Rahmen. Dabei kommt das Museum ganz ohne Zeitfensterreservation und Garderobenstress aus und ist trotz sorgfältiger Kuratierung kostenlos und für alle offen. So großzügig ist Berlin mit seinem Kunstangebot sonst selten und darum sollte man auf diese Erfahrung nicht verzichten. Wer mal wieder genervt ist von der Grauheit des Winters, kann ausgerechnet an dieser düsteren Ecke im Schatten der Hochbahn Farbe, Energie und neue Perspektiven tanken.
Information
Urban Nation Museum for
Urban Contemporary Art,
Bülowstraße 7, Schöneberg.
Geöffnet Di bis So 10
bis 18 Uhr. Eintritt frei.
Aktuelle Dauerausstellung
„Talking … & other Banana Skins“
bis Dezember 2024.
www.urban-nation.com