Zurück zur Platte

WBS 70 Block der DDR in Neubrandenburg
Es war nie alles nur Beige und Braun und Orange

Sie hatten lange den Ruf als soziale Problemviertel. Doch in Zeiten von Wohnungsnot sind Plattenbauten wieder sehr gefragt. Besonders der Wohnklassiker WBS 70. Er gilt als flexibel und wandelbar, eine Qualität, die gerade heute wieder geschätzt wird. Die Abkürzung steht für Wohnungsbauserie 70 und die Zahl für das Jahr 1970, in der das Wohnungsbauprogramm bis 1990 geplant war, um alle DDR-Bürger mit Wohnraum zu versorgen. Von den rund anderthalb Millionen errichteten Wohnungen in Plattenbauweise war der Bautyp mit knapp 650 000 Wohneinheiten und einem Anteil von vierzig Prozent am weitesten verbreitet.

Ein Möbelwagen steht in Marzahn. Gegenstände werden auf den Bürgersteig abgeladen, um dann zügig in eine Wohnung im vierten Stock zu gelangen. Wer zieht hier gerade ein? Eine Waschmaschine, ein Trockner werden hochbugsiert und Teile zerlegter MDF-Schränke. Wenig später hält ein Kleintransporter. Zwei Jungs steigen aus und heben einen klassischen Freischwinger im trendigen Nachtblau und etliche Kisten heraus. Zum Schluss Körbe und Bettzeug. Die neuen Bewohner mit dem Möbelklassiker haben einen freien Blick über flamingofarbene und lindgrüne Balkonraster, vorbei an Häuserecken auf ausladende Bäume. So entsteht die Zeile im Kopf „Mies im WBS 70“.

Die Nachfrage wächst

Die immer noch preiswerten Wohnungen finden rasch neue Mieter, seit kommunale Einrichtungen und Wohnungsbaugesellschaften mit Ideen aufwarten. Wie etwa die Weimarer Wohnstätten GmbH, die seit Baubeginn 2021 in Weimar West acht Millionen Euro in eine grundlegend neue Wohnstruktur der Gebäude investiert. Oder ein DDR-Plattenbau in Stadtroda, der mit 144 Wohnungen klimaneutral umgebaut wurde. Dafür wurde u.a. ein neuartiger Wärmetauscher angeschafft, der eine Wärmerückgewinnung aus dem Brauchwasser von Waschmaschinen oder Badewannen ermöglicht. Ebenfalls sorgen Balkonverglasungen und Photovoltaik auf dem Dach für den klimaneutralen Betrieb des Wohnhauses. In Bautzen wird modellhaft ein Vorgängerwohnungstyp, das bereits 1964 entwickelte Modell IW 64, mit allzu schmalen Küchen und Bädern, aber Fenstern in allen Räumen fit gemacht für Nachfragen.

Junge Menschen waren bislang skeptisch und meinten, sie wollten nicht in einem Oma-Stil wohnen, heißt es bei der Bautzener Wohnungsbaugesellschaft (BWB). Also hat sie gemeinsam mit dem Möbelhaus Ikea Dresden eine Modellwohnung kreiert: minimalistisch, hell, familienfreundliche Farben – weiß, zartes Grau bis grün – und vor allem Stauräume bis zur Decke. Mit dieser Wohnung wurden die alten Bilder im Kopf übermalt. „Freilich wären auch andere Styl-Konzepte denkbar, aber wir wollten ein frisches klares und bezahlbares Modell zeigen und der Phantasie künftiger Bewohner genug Raum lassen“, sagt Beraterin Elisabeth Erber.

Die Wertschätzung einer WBS 70-Wohnung, die es als Zweiraumwohnung mit knapp sechzig Quadratmetern, als Dreiraum- und sogar als Fünfraumwohnung mit drei Schlafzimmern und knapp über einhundert Quadratmetren gab, war höchst ambivalent. Einerseits überzeugte der Komfort: fließend warmes Wasser, Badewanne, Innentoilette, Helligkeit, Balkon und die Einbauküche nach dem Modell der „Frankfurter Küche“, andererseits bedrückte der Massencharakter, erst recht auch in der Außenanmutung der Großsiedlungen und Einzelblöcke. So wurden die Wohneinheiten als Arbeiterschließfächer und Schlafsilos apostrophiert, Gemälde und Fotografien bildeten die Tristesse typischer ostdeutscher Neubausiedlungen ab. Ein massiver Rückbau in den Neunzigern folgte.

Dank Sanierung, neuer Gestaltung und bezahlbarer Mieten und wegen des wachsenden Wohnraumbedarfs steigt die Nachfrage. Das Image wandelt sich.

Plattenbauwohnung als Museum

Erinnerung ist wie ein Puzzle, bei dem schon einige Teile fehlen und per Zufall andere passen. Die leeren Stellen werden durch Erzählungen rekonstruiert. Erinnerung ist also ein ganz besonderer, kreativer Akt, eine Annäherung an Vergangenes, zumindest aber ein Kommunikationsangebot. Das DDR-Museum, an Berlins schönster Dampferanlegestelle gelegen, arbeitet mit Artefakten, Objekten, analogen und überraschend platzierten digitalen Dokumenten. Ein Highlight des Hauses ist die WBS 70 Dreiraumwohnung. Mit einem Mix aus Möbeln und Accessoires der 60er- bis 80er- Jahre scheint sie wie aus der Zeit gefallen. Touristen filmen und knipsen. Aber wer hat so gelebt? Mit Dekortapeten wie im Film „Good Bye, Lenin!“ und Fransenlampen samt Nierentisch und Leiterregal? Künftig können Museumsbesucher auch im neuen Depot-Standort in Hellersdorf im einst populären Wohnmagazin „Kultur im Heim“ blättern und nachlesen, welche Wohnideen außer dem vielfach praktizierten Orange-Braun-Beige-Dreiklang aus Esstisch, Sofaecke und Schrankwand, möglich waren.

Wohnträume und Leben

Das Standardprogramm wurde oftmals um originelle Aspekte bereichert oder gar ganz verworfen mit Lösungen, die man heute als Upcycling oder Umnutzung bezeichnet. Ja, auch im realen Leben gab es die dunkel gebeizten oder weiß gestrichenen Regale, die Vintagemöbel und dekonstruierten Schrankwandelemente. Es war eine soziale, aber vor allem auch eine Generationsfrage. Räume wurden zu einem individuellen Zuhause mit selbst geschaffenen Textilien und kräftigem Farbanstrich. Außer dem Schokoladenton gab es Blau oder Rot, gern auch Weiß sowie Böden, auf denen nicht immer nur beige Auslegware, sondern auch Maisstrohmatten lagen. Setzkästen erzählten eigene Geschichten und waren als ganz persönliche Wunderkammern beliebt. Rote Wände, gelbe Kissen, skulpturaler runder Tisch, bedeckt mit dem schwarz-gelben Hedwig-Bollhagen-Kaffeeservice. Die Zeitschrift Kultur im Heim zeigte Wohlfühloasen und offerierte Raum­illusionen sowie Highlights des DDR-Designs, wie den Kunststoffschwinger von Ernst Moeckel oder die roten Kugelleuchten und formschönes Stapelgeschirr aus Sintolan, einer Art Hartkeramik. An den Wänden häufig  Grafiken und hochwertige Plakatkunst. Wer Glück hatte, erfreute sich eines Hellerau-Möbels, das die junge Elterngeneration in den Achtzigern bereits ihren Kindern übergab. Zurück in die Zukunft: Schöne Möbel, neben Massenprodukten, Designer Vintage und Handgemachtes für Kleinsträume sind immer noch zeitgemäß. WBS 70 hat sich dem Zeitgeschmack angepasst. 
 

Anita Wünschmann

Diesen Artikel teilen:

Mehr zum Thema »Stadt, Architektur, Leben, Wohnen«