Das Haus zur Berolina am Hausvogteiplatz ist einer der letzten Zeugen aus der Zeit, als Berlin eine erfindungsreiche Modemetropole war. Inzwischen hat es seinen Stil geändert – und bleibt doch zeitlos elegant.
Das lange Leben sieht man dieser Kreation wirklich nicht an: runde Fenster, glatte Fassade, von der Zeit scheinbar unversehrt. Sobald man aus dem U-Bahn-Eingang Hausvogteiplatz auftaucht, ist es da. Zunächst fast beiläufig schiebt sich das Haus zur Berolina ins Gesichtsfeld und lässt seine Extravaganz eher zurückhaltend wirken. Wie bei jeder gelungenen Kreation sind es die Details, die die prachtvolle und doch verspielte Wirkung ausmachen: glänzendes Glas, harmonische Proportionen, ein elegantes Farbspiel aus Hell und Dunkel und eine neckische Turmuhr als Blickfang. Der letzte Schliff kam dabei mit dem Alter. In seinen frühen Jahren protzte das Haus am Hausvogteiplatz 12 noch mit einer trutzigen Büste der Stadtpatronin Berolina an der Fassade, die dem Gebäude auch seinen Namen gab. Das entsprach dem damaligen Zeitgeist. Das Haus zur Berolina ist nämlich schon 130 Jahre alt. Die Berolina fiel allerdings bei einem Brand 1918 ab und wurde danach nicht mehr ersetzt.
Das Haus zur Berolina wurde 1895 als sogenanntes Kontorhaus – also ein Bürohaus mit Verkaufs- und Lagerräumen – im pompösen Stil der Neorenaissance „auf einem Grundstück von langer, geknickter Form“ eröffnet, wie die Schweizerische Bauzeitung im Jahr 1900 schrieb. Hinter der üppigen Fassade verbargen sich hintereinander vier Höfe mit umgebenden Quergebäuden. Zur letzten Jahrhundertwende begann Berlin den Aufstieg zur Modemetropole, am Hausvogteiplatz siedelten sich mehr und mehr Bekleidungsunternehmen an, deren Produktionen vor dem ersten Weltkrieg nach ganz Europa und bis in die USA exportiert wurden. Ein wichtiges Standbein war dabei die Herstellung von Mänteln nach dem neu aufkommenden Verfahren der Konfektion: Während früher jedes Kleidungsstück einzeln auf die Körpermaße der Trägerin oder des Trägers geschneidert wurde, kamen jetzt standardisierte Schnitte und zunehmend industrielle Fertigung zum Einsatz, die nach Bedarf angepasst wurden. Mode aus Berlin war damit vielleicht nicht maximal glamourös wie die aus Paris und nicht sagenhaft erlesen wie Schöpfungen aus Mailand. Dafür war sie praktisch, erschwinglich und trotzdem nicht ohne Eleganz. In der Blütezeit waren am Hausvogteiplatz über zweitausend Textilunternehmen, zuliefernde Kleinunternehmen und Dienstleister ansässig. Dazu gehörten etwa Änderungsschneidereien und sogenannte Zwischenmeistereien: Subunternehmer, die die Herstellung der Kleidungsstücke für die Konfektionshäuser abwickelten und die eigentlichen Näharbeiten oft zu niedrigsten Löhnen an Arbeitskräfte in Heimarbeit auslagerten.
Prunk und Bäume
Die Unternehmer überboten sich mit prunkvollen Geschäftsgebäuden. Das Haus zur Berolina wurde von dem damals gerade 38-jährigen Architekten Hermann August Krause entworfen und von den beiden erfolgreichen Architekten und Bauunternehmern Max Alterthum und Simon Zadek umgesetzt. Alterthum & Zadek hatten sich wenige Jahre davor mit einem gemeinsamen Büro selbständig gemacht und trugen zum Bauboom in der Gegend wesentlich bei. In ihre Verantwortung am Hausvogteiplatz fiel zwei Jahre davor etwa schon ein großes Geschäftsgebäude mit dem Namen „Haus zum Bullwinkel“, das heute noch steht und die slowenische Botschaft beherbergt.
Die Diskussion, ob der Hausvogteiplatz begrünt werden solle, war in der Blütezeit des Konfektionsviertels ein Dauerbrenner. Bereits seit Mitte des 19. Jahrhunderts schmückte ein kleiner Brunnen den bis dahin eher nüchternen Platz. Schon damals war der oberste preußische Gartengestalter Peter Joseph Lenné für eine geplante Begrünung hinzugezogen worden. Seine Empfehlungen wurden jedoch nicht verwirklicht. Erst 1890 entstand um den Brunnen eine kleine Grünfläche mit Bäumen. Die Geschäftsleute am Hausvogteiplatz waren allerdings dagegen: Sie befürchteten, dass die Bäume ihre Firmenschilder verdecken. Bald ließ der Senat die Bäume sowieso wieder fällen: 1906 wurde für den Bau des U-Bahn-Tunnels ein großer Teil des Platzes aufgerissen. Da waren es nur noch wenige Jahrzehnte bis zum völligen Niedergang des Modezentrums Hausvogteiplatz. Mit dem Ersten Weltkrieg kamen die Exporte zum Erliegen, in der Zwischenkriegszeit erholte sich die stark jüdisch geprägte Branche zwar wieder, aber nach der Machtergreifung der Nazis 1933 begannen diese, die jüdischen Konfektionsunternehmen gezielt zu zerstören. Der Zweite Weltkrieg gab der zivilen Textilwirtschaft in Berlin den Rest. Erst die Boomjahre der Nachkriegszeit brachten einen neuen Aufschwung – allerdings nicht mehr in der DDR, auf deren Gebiet der Hausvogteiplatz jetzt lag, und wo auch die Bekleidungsindustrie staatlich organisiert war.
Neue Eleganz
Auch in der DDR war in dem Haus ein Textilgeschäft untergebracht, aber der Platz verlor seine Bedeutung. Erst nach der Wende wurde er nach der Version von 1908 erneuert und auch die jüdische Tradition zog wieder ins Haus zur Berolina ein: Ab 2003 hatte die Jüdische Allgemeine darin für einige Jahre ihre Redaktionsräume. Seit dem Jahr 2000 erinnert ein raffiniertes, mehrteiliges, mit Informationstafeln versehenes Denkmal als „Denkzeichen Modezentrum Hausvogteiplatz“ an die Geschichte dieses Platzes. Vor dem Haus zur Berolina zur Berwolina ein: Ab 2003 hatte die Jüdische Allgemeine darin für einige Jahre ihre Redaktionsräume. Seit dem Jahr 2000 erinnert ein raffiniertes, mehrteiliges, mit Informationstafeln versehenes Denkmal als „Denkzeichen Modezentrum Hausvogteiplatz“ an die Geschichte dieses Platzes. Vor dem Haus zur Berolina tanzt seit 2004 eine schwungvolle Figur gleichen Namens als Reminiszenz an die einst trutzige Namensgeberin. 2003 wurde das Haus zur Berolina, heute längst unter Denkmalschutz, komplett restauriert und an seine neue, zeitgemäße Umgebung angepasst. Nachbarn sind heute glattgeschliffene, reduzierte Glasfassaden und, ein paar Häuser weiter, die riesige mongolische Botschaft. Die neue Kombination steht dem Haus zur Berolina gut. Wahre Eleganz lässt sich mit allem verbinden. Die Innenräume dienen heute als Coworking-Space. In gewisser Weise schließt sich damit ein Kreis. Durchgestylte Mietbüros auf Zeit sind seit einigen Jahren so modern wie vor hundertdreißig Jahren Kleidung von der Stange: Beides schlägt nicht so zu Buche wie eine maßgeschneiderte Lösung, macht aber trotzdem ordentlich etwas her.