Die Kurfürstenstraße wurde lange mit Prostitution, Drogen und Kriminalität assoziiert. In den letzten Jahren hat sie jedoch mit neuer Architektur einen enormen Wandel erlebt. Die ehemaligen Kriegsbrachen wurden mit Wohnhäusern bebaut, die der Gegend ein neues Gesicht geben und das Image verbessern. Die Neubauten zeigen ganz unterschiedliche Ansätze für neues Wohnen in der Innenstadt.
Den Auftakt für die neue Definition des Quartiers entlang der Kurfürstenstraße bildet das „Carré Voltaire“, das im Jahr 2018 eingeweiht wurde. Auf sechs Etagen mit zwei Staffelgeschossen wurden 127 Eigentumswohnungen im Stil eines Stadtpalais‘ errichtet. Das „Carré“ wurde vom Berliner Architekten Klaus Theo Brenner entworfen. Seine Bauherren definierten die Lage in blumigen Worten als „südlich vom Nollendorfplatz und unweit von Landwehrkanal und dem neuen Park am Gleisdreieck“. Damit ist ein neues Kapitel in der Geschichte der Kurfürstenstraße aufgeschlagen: Das noble weiße Wohnhaus bietet „hochwertige, klassische Materialien in warmen Farbtönen“ und Eichenparkett, hohe Türen und hell geputzte Wände.
Die Rechnung ging auf. Zwei Jahre später wurde in der Nähe ein sechsgeschossiges Wohnhaus eingeweiht. Das von Bolles + Wilson aus Münster entworfene auffällige Gebäude an der Ecke Frobenstraße fügt sich, an die Architektur der Wiederaufbauzeit der Fünfzigerjahre erinnernd, in die Umgebung ein. Die blaugraue Straßenfassade steht im Kontrast zur rosafarbenen Rückseite und Brandmauer des Nachbargrundstücks. Die „Elemente der Lochfassade“, wie die Architekten sie nennen, „aber auch drei unregelmäßig angeordnete, mehr als stockwerkshohe Fenster“ sind Merkmale der Gebäudefront. Die Fenstertüren sind gegeneinander versetzt und haben unterschiedliche Größen. Vor dem ersten Obergeschoss liegt ein schmaler durchlaufender Balkon – die Beletage. Auf der Rückseite öffnen sich vier der fünf Obergeschosse mit großen Glasschiebetürelementen zum Garten. Die Fenster wurden stockwerksübergreifend in zwei Rücksprüngen zusammengefasst. Der Rücksprung entspricht den Balkonen, die etwa auf halber Breite darüber hinaus auskragen, so dass Freisitze entstehen. Zwischen den Vertiefungen befindet sich das Treppenhaus. Auch hier spielen die Architekten mit den Fensterformaten. Wie bei der Straßenfassade unterscheidet sich auf der Rückseite die Gestaltung des obersten Geschosses von der Wandfläche. Vier Fenstertüren werden auf der einen Seite einem großen Wandausschnitt gegenübergestellt, der den Durchblick auf eine Dachterrasse freigibt. Im Inneren dominieren Beton und unlackierte Holzfenster, geflieste Böden in schwarz und weiß. Das Haus bietet unterschiedliche Wohnungsschnitte.
Die Architekten haben manche Wohnungen als „Split-Level“ mit anderthalb-geschossigen Wohnräumen realisiert, in denen Innentreppen Emporen erschließen.
Drei Wohnungen mit Studio-fenstern haben mehr als 3,10 Meter lichte Raumhöhe. Ein erkerartiges Fensterband im Penthaus schließt das Gebäude ab. Im Hof erlauben Balkone, die zwischen schmal und tief mäandrieren, eine Bepflanzung. Der Beton ist im Treppenhaus sowie an den Wänden und Decken der Wohnungen sichtbar. Die Wohnungsgrößen und -zuschnitte sind für junge und alte Paare ebenso geeignet wie für Familien. „Das Haus hat schon sechs Kinder“, freuen sich die Architekten. Im Hof gibt es eine Wiese mit Hügel, Hochbeete, Spielgeräte und einen großen Sandkasten. Das Dach ist begrünt und mit einer Photovoltaik-Anlage versehen.
Direkt nebenan wurden nach dem Entwurf des Büros „June14“ zwanzig Eigentumswohnungen, drei Gewerbeeinheiten und ein Atelier gebaut. Das Haus ist gestaltet wie sechs Türme, die sich ineinanderschieben. In jedes der fünf Vollgeschosse schiebt sich eine Galeriefläche. Mitglieder der Baugruppe haben das Haus bezogen und sich für einen individuellen und puristischen Wohnstil entschieden. Die ausgefeilte Geometrie des Hauses wird durch Wohn- und Galerieebenen bestimmt. Die beiden Entwerfer des Hauses, Johanna Meyer-Grohbrügge und Sam Chermayeff haben sich im Büro SANAA in Tokyo kennengelernt.
Deutlich unprätentiöser geht es beim großen Haus gegenüber zu: Das bekannte Berliner Büro nps Tchoban Voss hat an der Ecke zur Genthiner Straße das Quartett neuer Wohnbauten komplettiert: Es heisst „Schönegarten“ als Anspielung auf die Tatsache, dass die Kurfürstenstraße teilweise in Schöneberg und teilweise im Bezirk Tiergaten liegt. Die Grundsrissform des Ensembles aus 14 aneinandergefügten Gebäuden bildet ein „P“ mit einem geschlossenen Innenhof. Über den sechs Etagen liegt noch ein Staffelgeschoss. Die verglasten, gewerblich genutzten Erdgeschosse binden die Reihe der Neubauten in den Straßenraum der Kurfürstenstraße ein. Während die Gliederung der Obergeschosse vertikal ist, sticht jedes Haus durch seine Details, Materialien oder die Gestaltung der Balkone hervor. Architekturbeton und Mauerwerk prägen die Fassaden und wurden je nach Gebäude unterschiedlich ausgeführt. Eine raue Beton-Holzschalung wechselt sich mit glattem Sichtbeton und fein geschliffenen Oberflächen ab. Die Klinker weisen verschiedene Farb- und Mustervariationen auf. Die 182 Wohnungen haben ein bis zwei Zimmer. Im Norden und Osten erhalten die Erdgeschosswohnungen Terrassenflächen mit Vorgärten und Spielbereichen. Glasbrüstungen passen zu den Betonoberflächen, während Metallgeländer für Mauerwerkfassaden vorgesehen wurden. Für die Erdgeschosse zweier Häuser wurde ein Muster aus abstrakten floralen Motiven entworfen. Deutlicher könnte der Wandel von einer der berühmt-berüchtigten Straßen in der westlichen Innenstadt Berlin wohl kaum ausfallen.