Das alte Handwerk lebt: Werkstattbesuch in Venedig und ein Buch über ausgewählte Ateliers in Europa
In Venedig gibt es einen besonders verwunschenen Ort. Dort in Canareggio sind die Venezianer noch unter sich. Und wer es nicht weiß, sieht sie nicht: die Manufaktur Orsoni hinter einem schlichten Tor. Haus und Werkstatt der Gründerfamilie hinter Mauern sind aus dem 17. und 19. Jahrhundert. Der Glasmacher Angelo Orsoni hatte das Ensemble 1888 gekauft, und seitdem werden dort die allerschönsten Mosaiken aus Glas gemacht. So versteckt Orsoni auch ist im nordwestlichen Zipfel der Serenissima, so sichtbar sind seine Künste. Sie befinden sich sowohl in Atatürks Mausoleum in Ankara oder in Londons Westminster Abbey, aber auch in vielen privaten Häusern überall auf der Welt. „Orsoni Venezia 1888“ ist weltberühmt und ein Hort seltenen Kunsthandwerks.
Gläserne Mosaiken werden hier noch von Hand gefertigt. Die Werkstatt am kleinen Gartenatrium gleicht einem verwischten alten Gemälde. Die an den Öfen hantierenden Männer schwitzen. Quarzsand und natürliche Rohstoffe werden zum Schmelzen gebracht und dann wie flüssiger Honig aus der Spitze einer langen Pfeife maschinell zu riesigen hauchzarten und durchscheinenden Formen geblasen, aus denen auch die herrlichen mit Blattgold versehenen Mosaiken entstehen, die San Marco, Venedigs Dom und seit 1807 die Kathedrale des Patriarchen schmücken.
Das Wort Mosaik wurde von dem lateinischen Wort Musaicum abgeleitet. Seine Herstellung und auch das Verlegen sind also gewissermaßen den Musen gewidmet und weit mehr als ein reines Handwerk.
Orsonis gewaltige Bibliothek der in Glas gegossenen Farben ist atemberaubend. Diffuses Licht aus dem Garten lässt die unzähligen Platten und winzigen Smalten, wie die kleinsten Mosaiken heißen, in immer neuen Nuancen schimmern. Die Mehrzahl der Farben kommt heute aus China, und die richtige Schattierung hinzubekommen, ist wirkliche Kunst: für einen thailändischen Buddha vielleicht oder für die von Antoni Gaudi im neukatalonischen Stil entworfene und immer noch unvollendete Sagrada Familia in Barcelona. Orsoni glänzt überall.
Im Prestel Verlag ist ein Buch erschienen, das die feinsten aller Werkstätten dekorativer Kunst in Europa vereint. Manche Orte des Handwerks gibt es schon Jahrhunderte, und noch immer werden dort die alten Künste gepflegt, wie in der venezianischen Seidenweberei „Luigi Bevilacqua“ im Stadtteil Santa Croce, wo auf Handwebstühlen aus dem 18. und 19. Jahrhundert Seide, Samt und Brokat gewebt werden. Früher war das fast alles für die Dogen, Päpste und Granden der Stadt, heute bestellen hier Inneneinrichter, Modedesigner und natürlich die Verantwortlichen für den Denkmalschutz.
Luigi Bevilacqua, der Sohn eines Glasperlenmachers und einer Näherin, war 1875 der Gründer. Immer noch ist das Haus an der Fondamenta Priuli in Familienbesitz. Als Bevilacquas Kronjuwelen kann man das riesige Archiv bezeichnen, die Musterbücher mit Stoffen noch aus byzantinischer Zeit. 3 500 Stoffmuster sind ein Schatz, und ein jedes könnte auch heute noch auf den alten Webstühlen entstehen. Zentimeter für Zentimeter. Das dauert. In einem Jahr wachsen gerade mal ein paar hundert Meter feinstes Gewebe auf solchen Methusalems, sorgsam bespielt von jungen und geduldigen Weberinnen. Aber Bevilacqua ist offen für alle Wünsche. Man muss nur warten können.
Die im Buch gezeigten Werkstätten dekorativer Kunst in Europa sind mit Bedacht ausgewählt. Allesamt sind sie Ikonen der Handwerkskunst. So wie das österreichische Unternehmen für Kristallglas und Kronleuchter, das in diesem Jahr auf 200 Jahre Firmengeschichte zurückschauen kann. „J & L. Lobmeyr“ ist Wiener Glaskultur vom Feinsten. Die Trinkgläser sind hauchzart und delikat und eine Trophäe für jeden Sammler und anspruchsvollen Genussmenschen. Aus Deutschland ist auch die „Königliche Porzellanmanufaktur Nymphenburg“ dabei, die seit 1747 fertigt und nicht nur für ihre Menagerie natürlich und anmutig geformter Tiere berühmt ist, sondern auch für eine ausgewählte zerbrechliche Tischkultur.
Keramik aus Stoke-on-Trent in den englischen Midlands. Silberschmiedewaren aus Paris. Kalkfarbe aus dem nordsächsischen Belgern-Schildau oder Metallmöbel aus dem schweizerischen Dübendorf, nicht weit von Zürich. 28 Unternehmen werden porträtiert, mit neuen Fotos, ohne Kunstlicht aufgenommen, die den Betrachter dennoch in die Anfangszeit der Handwerksbetriebe katapultiert. So gewollt stehen nicht Menschen, sondern Material und Objekt im Mittelpunkt.
Wir sehen: die Elite der schönen Künste. Heute wie gestern. Auch „Fortuny“ ist dabei, das von Lino Lando in die Gegenwart gerettete künstlerische Erbe des spanischen Designers Mariano Fortuny, der 1889 aus Granada kommend Venedig eroberte und bis zu seinem Tod 1949 im Palazzo Orfei (heute Palazzo Fortuny) lebte und arbeitete. Lino Lando war gerade mal 17 Jahre alt, als er sich in die schwebenden Lampen im verlassenen Palazzo Fortuny verliebte, die schon begannen, zu Staub zu zerfallen.
Mariano Fortuny wurde seine Mission und die seiner Söhne. 1984 gründete er Venetia Studium (heute Fortuny), das im nächsten Jahr schon Vierzig wird und neben Lampen auch Kleider, Stoffe und jede Menge Accessoires in seinen Ateliers in Cannaregio herstellt. Die Lampen gleichen schimmernden Drachen und werden mit kleinen bernsteinfarbenen Tropfen aus Murano-Glas versehen. Sie sind aus Seide, Glas, Blattaluminium und Blattgold und erinnern an ein wenig an stimmungsvolle Theaterinszenierungen.
John Whelan, der Autor des Buches ist Historiker, ein Spezialist für Heritage Design und studierter Historiker. Man spürt seine Hinwendung zum Einzigartigen. Sein Augenmerk liegt auf der Bewahrung und behutsamen Sanierung wertvollen Kulturgutes. Wer sich aber für Kunsthandwerk interessiert, kennt auch Bevilacqua, Orsoni, Nymphenburg und all die anderen Porträtierten wie Mariano Fortuny. Lino Lando pflegt des Künstlers Garten und erntet die venezianischen Früchte.
Information
John Whelan und
Oskar Proctor (Fotos):
Ateliers und Werkstätten,
287 S., Prestel Verlag