Was wäre eine Stadt ohne ihre Plätze. Manche sind groß, manche klein. Manche berühmt, manche unbekannt. Sie sind quirlige Touristenattraktionen oder lauschige Rückzugsorte für die Stadtbewohner. Plätze in der Stadt haben ihre Geschichte und kleinen Geheimnisse, die es zu ergründen lohnt.
Am Vormittag ist der Platz noch wenig bevölkert, nur ein paar junge Leute sitzen auf der Einfriedung um das Rasendreieck oder beim späten Frühstück im Café Sauer bei Poached Eggs mit Avocados. Zwei Hunde kreisen um das eiserne Räuberrad, das – vier Meter hoch – mitten auf dem Rasenplatz steht. Die Hunde heißen Neo und Summer. Eine Frau, blond und in Jeans, um die fünfzig, lässt sie immer wieder ein verknotetes Seil apportieren. Der Rosa-Luxemburg-Platz vor der Volksbühne mit dem Räuberrad ist für sie und die Hunde Auslaufgebiet, es gibt ja sonst nichts weit und breit.
Die Frau wohnt schon vierzig Jahre in einem der Häuser am Platz. Sie war dabei, als das Räuberrad auf dem Platz aufgestellt wurde. Das war 1994, anlässlich einer Inszenierung von Schillers Räubern; der legendäre Bühnenbildner Bert Neumann hatte es entworfen. Es sollte Bezüge zu einem Gaunerzinken herstellen, Geheimzeichen des fahrenden Volkes, und wurde zum Erkennungszeichen der Volksbühne.
Sie sah auch zu, als Frank Castorf, der Intendant, und seine Leute das Räuberrad nach Castorfs Ablösung 2017 abbauen ließen. Das Rad wurde in drei Teile zerlegt und auf einem Tieflader nach Avignon transportiert, wo Castorf im Sommer inszenierte. Aber jetzt steht es wieder fest an seinem Platz, die Füße neu verschweißt.
Spontane Umfrage unter den Anwesenden, wer den Namen Rosa Luxemburg kennt. Paul liegt auf dem Rasen und lässt sich die Frühlingssonne ins Gesicht scheinen. Er kommt aus Kalifornien, hat dort studiert und ist jetzt auf Europatour. Das Eisenrad gefällt ihm, auch wenn er keine Ahnung hat, was es bedeuten soll. Eine kleine Tafel wäre nicht schlecht, die die Geschichte des Rades erzählt. Rosa Luxemburg kennt er nicht, was man ja verstehen kann, wenn jemand aus dem fernen Kalifornien kommt. Ah, Arbeiterführerin, Kommunistin, very interesting.
Ein Mädchen zeichnet das Räuberrad mit einem Bleistift in einen Skizzenblock. Sie kommt aus Leipzig, Rosa Luxemburg und ihr Leben kennt sie, weil ihre Mutter sie in den Film von Margarethe von Trotta mitgenommen hat. Ein Mann aus Kolumbien, der jetzt in Berlin lebt, erzählt, er habe von Rosa Luxemburg im Integrationskurs gehört und auch schon eine Dokumentation angesehen. Er lernt so Deutsch. Die Frau mit den Hunden weiß natürlich, wer Rosa Luxemburg war: „Die Lebensabschnittsgefährtin von Karl Liebknecht, dem Arbeiterführer, naja, nicht direkt, eher politisch.“ Luxemburgs Sätze, die ein New Yorker Künstler rund um den Platz auf schwarzen Betonstreifen in das Pflaster einließ, liest sie manchmal, wenn sie mit ihren Hunden Gassi geht.
Der Platz ist vor gut 110 Jahren in seiner jetzigen Form eines Dreiecks vor der Volksbühne angelegt worden, mit dem zwei weitere Dreiecke links und rechts des Hauses Volksbühne eine Symmetrie bilden. Gesäumt werden sie neben der Volksbühne vom Kino Babylon, dass Ende der zwanziger Jahre nach Plänen des Architekten Hans Poelzig errichtet wurde und als beispielhaftes Werk in dessen Schaffensperiode der Neuen Sachlichkeit gilt, und dem heutigen Karl-Liebknecht-Haus, Sitz des Parteivorstandes der Linken. Eine Galerie gibt es, ein Café, ein Restaurant gleich neben dem Kino, dessen Betreiber immer mal wieder wechselten und das jetzt in asiatischer Hand ist, eine angesagte, laute Jugendkneipe mit Hostel darüber, einen Hutladen, Wohnhäuser.
Früher standen hier Scheunen, in denen Heu und Stroh für den Viehmarkt auf dem heutigen Alexanderplatz gelagert wurden. Nach und nach wurden die Scheunen zu Wohnhäusern ausgebaut, mit der Industrialisierung kam die Wohnungsnot, die Betten waren zwei- und dreifach belegt. In den sechs Scheunengassen blühten Kriminalität und Prostitution, der Maler Heinrich Zille hat die Szene in Hunderten Zeichnungen festgehalten. Anfang des vorigen Jahrhunderts beschloss die Stadt im Zuge des U-Bahn-Baus Richtung Norden und einer Neuordnung des Verkehrs den Abriss des ganzen Viertels und baute neu. Damit wurde auch gleich – was das eigentliche Ziel war – die ansässige proletarische und nach 1900 zugewanderte jüdische Bevölkerung aus der Stadtmitte verdrängt.
Ein halbes Dutzend Namen hatte der Platz seitdem, und ihr Wechsel erzählt wie bei so vielen Berliner Plätzen von der bewegten Geschichte der Stadt. Erst hieß er Babelsberger Platz, dann Bülowplatz, benannt nach dem ehemaligen Reichskanzler. Die Nationalsozialisten benannten den Ort 1933 in Horst-Wessel-Platz um, ihren Märtyrer, der 1930 von KPD-Leuten erschossen wurde. Wo Rasen war, ließen sie den Boden für ihre Aufmärsche pflastern. Nach 1945 hieß er kurz Liebknecht-, dann Luxemburg-Platz, ehe die Stadtoberen 1969 ein „Rosa“ davor setzten, um Verwechslungen vorzubeugen.
Nördlich des Rosa-Luxemburg-Platzes gab es lange eine Grünfläche mit Bäumen, dort wird jetzt das neue Verlagsgebäude von Suhrkamp gebaut.