Aus Berlin fährt man eine ganze Weile durch die karge, verschlossene Landschaft der Niederlausitz. Im Ohr der Liedermacher Gerhard Gundermann, der nicht weit von hier seinen Dienst als Baggerfahrer im Tagebau verrichtete und über die Seelen der Bergleute sang: „Die haben harte Hände und ein hartes Herz, die streiten ohne Ende und die sterben früh.“ Als man gerade melancholisch wird, bricht das Gebilde plötzlich aus der Landschaft hervor: gitterartig verstrebt wie ein gigantischer, umgekippter Strommast, ein industriell brachialer Fremdkörper in dieser herbstlichen Waldlandschaft. Dabei ist es eigentlich umgekehrt.
So landschaftlich ruhig wie jetzt hat es hier, rund 130 Kilometer südöstlich von Berlin, längst nicht immer ausgesehen, die Lausitz ist seit jeher vom Kohlebergbau geprägt. „Ohne die Braunkohle wäre es in der DDR kalt und dunkel gewesen“, wird später Gästeführer Konrad Lehmann sagen. „Darum hatte der Tagebau Priorität.
Die Förderbrücke F60 war von Anfang an eine Industrieanlage der Superlative: Mit einem halben Kilometer Länge, 204 Meter Breite und 80 Meter Höhe ist sie größer als jede andere Abraumförderbrücke der Welt. Zum Vergleich: Würde man den Eifelturm danebenlegen, wäre er nur knapp zwei Drittel so lang. Die F60 war eine eigenständige Industrieanlage mit komplexen Funktionen. Ihre Aufgabe: die Kohleschicht abzubauen, die in rund 30 Meter Tiefe in diesem Teil der Lausitz liegt. Dazu musste zuerst die darüberliegende Erde – der sogenannte Abraum – abgebaggert und am Rand der Förderhalde aufgeschüttet werden. Auf den neuen Boden, der durch das schiere Gewicht des von den Förderbändern herunterprasselnden Erdreichs verdichtetet wurde, verlegte man Schienen, auf denen sich der Koloss alle paar Tage ein paar Meter vorwärts bewegte, begleitet von einer ganzen Infrastruktur. So wurde neben einem Trafo-Wagen, der die nötige Energie erzeugte, auch ein riesiger Wagon mit zahlreichen Werkstätten mitgeführt, um Reparaturen und Wartungsmaßnahmen sofort umsetzen zu können. Sowohl in die Höhe als auch in die Tiefe reichten die Bagger je 30 Meter, daher der Name der Förderbrücke. Und sie sollte nie stillstehen: Gearbeitet wurde im Drei-Schicht-System rund um die Uhr. Jeweils nur ein paar Dutzend Bergleute – Männer und Frauen – waren dabei zugange. Harte, schmutzige Arbeit bei Wind, Wetter und schwindelerregender Höhe, die aber begehrt war wegen der guten Bezahlung.
Die F60 war hier von 1989 bis 1991 als letzte von fünf baugleichen Förderbrücken dieses Typs als Tagebau Klettwitz-Nord aufgebaut worden. Doch mit der Wiedervereinigung kam der Beschluss, die Anlage im Interesse der westdeutschen Braunkohleindustrie stillzulegen. Im Juni 1992 fuhr die hochleistungsfähige, nagelneue F60 nach nur einem Jahr Betrieb für immer herunter. Die Mondlandschaft wurde geflutet und zum Bergheider See ernannt. Besonders wertvolle Bauteile wie die kostspieligen Hochleistungsförderbänder und Motoren verteilte man an die restlichen Brücken dieses Typs, die in anderen Teilen der Lausitz noch immer Rohkohle fördern. Das Stahlskelett von Klettwitz-Nord „fiel ins Koma“ und sollte gesprengt werden.
Dagegen engagierten sich viele Menschen der Region. 1998 kaufte die Gemeinde Lichterfeld-Schacksdorf die Brücke, 2001 gründete sich ein Verein mit dem Ziel, aus der Anlage ein Industriedenkmal und Museum zu machen. Die F60 wurde für diesen Zweck umgerüstet: Unter anderem wurden fast blickdichte Besucherstiege mit gesicherten Halterungen angebaut. Seither können nicht nur Kinder im Rahmen einer Führung den Koloss sicher besteigen, sondern auch nicht-schwindelfreie Besucherinnen und Besucher erreichen den höchsten Punkt auf 74 Meter ziemlich entspannt. Auf verschachtelten Stegen geht es dabei immer höher. Die Stahlrollen, auf denen einst die Förderbänder liefen, lassen sich auch nach dreißig Jahren in Schnee und Regen noch im Vorbeigehen mit einem kleinen Schubs bewegen. Zwischen den Stahlstreben blitzen mehrere Unterstände und sogar zwei Klohäuschen hervor – der einzige Schutz vor Wind und Kälte für die Bergleute. Denn da, wo heute weit unten grüne Wiesen und der See zu sehen sind, bewegte sich die F60 früher über ein an eine Mondlandschaft erinnerndes, karges Tagebaufeld. „Da wollte keiner extra runterklettern, wenn er mal auf Klo musste“, sagt Konrad Lehmann trocken.
Die Zentrale leuchtet
Ein paar enge Stufen führen schließlich in eine Art Zwischengeschoß. Das ist der „Keller“, wie Lehmann ihn nennt: der einstige Leitstand der F60. Mit seinen Schalttafeln und Knöpfen erinnert der Raum an ein altmodisches Kino-Raumschiff. Als Lehmann einen Schlüssel dreht, beginnt auf einer Tafel eine Reihe Lämpchen zu blinken: So sah es damals aus, wenn die Brücke hochgefahren wurde. Seit einer Weile treffen sich ein paar Fans und die ehemalige Belegschaft der F60, um in ihrer Freizeit den Staub von den Pulten zu fegen und die Elektrik auf Vordermann zu bringen – damit es wenigstens hier drin wieder so aussieht, als ob die F60 noch lebte.
Ende und Neuanfang
Am Ende steht man wieder unten, schwer beeindruckt und ein bisschen melancholisch. Still liegt der Koloss in der Abendsonne. Die Kohle, wie sie hier einst gefördert wurde, hat heute vor allem Feinde. Sie zerstört Landschaften und schadet dem Klima. Das Land, das sie hier einst mit so viel Energie warmhalten sollte, ist schon vor einer ganzen Weile untergegangen. Nur ganz langsam erwacht die gezeichnete Landschaft zu neuem Leben, nachts gibt es eine Lichtkunstinstallation und im Sommer Kino und ein Musikfestival. Doch die Zehntausende Besucherinnen und Besucher, die jedes Jahr kommen, wollen vor allem die Vergangenheit sehen. Die F60 ist eines der imposantesten Industriedenkmäler in Deutschland. Und eine Erinnerung daran, dass sich die Zeiten zwar ändern – aber von dem, was war, auch immer etwas übrigbleibt.
Information
Bergheider Straße 4
03238 Lichterfeld
Telefon 03531/60800
https://www.f60.de/
Öffnungszeiten in der Wintersaison
Mittwoch bis Sonntag
11 bis 16 Uhr
Führungen um
11.30, 13 Uhr und 14.30.
Eintritt 14 Euro inkl. Führung
2,50 Euro ohne Begehung der Brücke